Wenn eine (für mich) neue einheimische Band sich selbst in einem Kosmos beschreibt, in dem wir mit Himmelskörpern wie Marillion, Pink Floyd, Genesis oder Dream Theater kollidieren könnten, dann muss ich nicht lange darüber nachdenken, ob ich in diese Klangwelt reisen möchte. Also Startsequenz einleiten und ab dafür in proggige Sphären.
Auf dem Weg dorthin erfahre ich, dass Ricochet aus Bamberg stammt und einst als Coverband unterwegs war. "Pieces Of The Ricochet" ist das Debütalbum, ausdrücklich mit eigenem Material, tragischer Weise erschienen, als die Welt plötzlich nicht mehr die gleiche war – damals in den dunklen Tagen des März 2020. Eine Welt, die für Musiker vermutlich noch unwirtlicher wurde als für viele andere und vielleicht ja auch der Grund, dass mir diese Musik erst jetzt bewusst wird.
Kaum die CD gestartet, dröhnt ein fettes Intro durch die Boxen, da fliegen einem die Bruchstücke des Querschlägers dem Titel gemäß um die Ohren, bauen eine enorm druckvolle Energie auf, um sich gleich in wunderbaren Gitarrenlinien zu entladen. Ein Auftakt nach Maß und ganz nach meinem Geschmack.
Doch das Werk behält ein konstant hohes Niveau mit starken Soundgebilden und wunderschönen Breaks. Schaut man sich die durchwegs berührenden, sehr nachdenklichen und ein wenig philosophischen, fast schon spirituellen Texte an, dann spürt man, dass der Geist dieser Musik einem klaren Konzept folgt. Und das hört man auch aus der instrumentalen Gestaltung heraus.
In den Songs lässt man sich bewusst Zeit, die Stimmung dezent und subtil auszuarbeiten. Das führt zu Genre-typischen Laufzeiten zwischen sieben und vierzehn Minuten, lässt aber die Breaks ausdrücklich organisch und gewachsen erscheinen, da wirkt nichts konstruiert oder auf Effekt setzend, was einem im Prog (un-)gern schon mal begegnen kann. Diese machtvollen Sounds sind kein Selbstzweck, sie folgen einem Plan. Die melodischen Bögen sind nicht gewagt und vermitteln eine gewisse Eingängigkeit, die musikalische Klasse der Kompositionen lässt aber keine Sekunde in der Spannung nach. Da waren die zu Beginn zitierten Marillion aus meiner Sicht oft viel vorhersehbarer.
Die satten Keyboard-Wände harmonieren sehr schön mit krachenden Riffs und knackigen Double-Bass-Drums, um im nächsten Moment sanfte Passagen heimelig zu untermalen. Die Musik ist abwechslungsreich und bleibt dennoch immer im Flow, was wir wohl besonders deutlich aus dem abschließenden Epos "Transition" ableiten können, einem dreigeteilten Werk mit wechselnden Klangfarben und rhythmischen Lichtsprüngen. Hier fliegen zwischenzeitlich recht metallische "Pieces" durch Raum und Zeit und plötzlich kulminiert der zweite Part in einer wirklich tollen Gitarren-Line, die sich für mich fast wie eine Klammer zum Start in "Fear" anhört. Gänsehautmoment.
Der wunderschöne, sensible und Mut machende Abschluss, balladenhaft vorgetragen über spärlichem Piano, hinterlässt uns mit einer positiven Botschaft: »Someday – one day, I’ll look right into your eyes and then I’ll know that you’re the one the one and only for me«. So bringt uns der Spannungsbogen des gesamten Albums heraus aus Angst und Zweifeln (mit "Fear" haben wir begonnen) zur Suche nach dem Sinn des Lebens; und man findet ihn – ein bisschen schon zuvor in "Credo"- denn am Ende führt man uns schlussendlich zur Hoffnung auf die große und wahre Liebe. Ein solches Konzept kann man jederzeit gerne unterschreiben.
Ricochet haben nach eigenem Bekunden über Jahre an dem vorliegenden Werk gefeilt, was man eindeutig heraushören kann. Die Songs sind wunderbar austariert, in sich stimmig, atmosphärisch dicht und kompakt. Und die Gitarre setzt dem ganzen immer wieder die Krone auf, wie beispielsweise in dem dramatischen Spannungsverlauf von "Credo". Das sind geile Sounds, die man zwar in dieser Form nicht zum ersten Mal zu hören bekommt, die Mischung aber hat mit den zitierten Vorbildern jeweils nur sehr wenige Schnittstellen und ergibt somit einen ganz eigenen Stil, der sehr viel Spaß beim Zuhören und Freude auf weitere Alben vermittelt. Freude, die die Protagonisten offensichtlich selbst empfunden haben, denn ihre Musik versprüht großen Enthusiasmus und sehr viel Empathie, da steckt Herz, Seele und Verstand in jeder Zeile, in jeder Hookline, in jedem Solo. Und man bewegt sich sehr stilsicher sowohl in den knackig harten Passagen wie auch in den im Prog unvermeidlichen, dramaturgisch getragenen Momenten.
Well done, meine Herren aus Bamberg, das habt Ihr wirklich gut gemacht!
Ricochet Line-up:
Thomas Amon (drums)
Stefan Hinz (keyboards, piano)
Bernhard Kiessling (bass)
Claus Martin (vocals, keyboards)
Peter Reck (guitar)
Markus Schley (vocals – #2)
Tracklist "Pieces Of the Ricochet":
- Fear
- Credo
- The Other Side
- Again
- Death Incarnate
- Transition
Gesamtspielzeit: 58:54, Erscheinungsjahr: 2020
3 Kommentare
Manni
9. Juli 2021 um 22:28 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Auf dem Weg dorthin erfahre ich, dass Ricochet aus Bamberg stammt und einst als Coverband unterwegs war. "Pieces Of The Ricochet" ist das Debütalbum, ausdrücklich mit eigenem Material, tragischer Weise erschienen, als die Welt plötzlich nicht mehr die gleiche war…
Ich bin jetzt nicht so der Experte, aber die Band Ricochet gibt es doch schon lange? Oder assoziiere ich das mit einer anderen deutschen Prog-Band? Das wär aber zuviel Zufall. Fakt ist, dass ich von Ricochet eine CD habe – mit eigenem Material – die 2002 als Zarah – A Teartown Story erschienen ist. Und die Musik passt perfekt zu deiner Beschreibung. Daher denk ich mal, dass "Pieces Of The Ricochet" aus 2020 nicht das Debütalbum sein kann. Ich kann mich aber auch täuschen. Bitte aufklären.
uh
10. Juli 2021 um 10:26 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Die Band die du meinst, kommt aus Hamburg.
Ulli
Manni
10. Juli 2021 um 13:21 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Danke Ulli. Zwei deutsche Bands mit gleichem Namen und Stilrichtung ist eine seltene Gegebenheit. 🙂