Styx-Keyboarder Lawrence Gowan singt beim Konzert in Phoenix kurz vor "Come Sail Away" noch ein Stückchen "Limelight". Und das amerikanische Fernsehen geht im NFL-Playoff-Spiel der Ravens gegen die Titans mit "Tom Sawyer" in die Werbepause. Irgendetwas Krasses muss passiert sein … und ja, das ist es. Und es hat viel ausgelöst. Seit Tagen gibt es eine in dieser Intensität wirklich seltene Fülle an traurigen und dankbaren Beiträgen in den sozialen Netzwerken. Quer durch alle Arten der Rockmusik – das ist bemerkenswert. Wie Neil Peart Musiker (sogar viele, die ausdrücklich nicht einmal gern Rush hören!) und Fans beeindruckt, beeinflusst und gerührt hat, scheint seinesgleichen zu suchen.
Wir Musikliebhaber haben Angst vor so etwas. Aber es muss passieren, wenn unsere Helden und Idole älter sind als wir selber – sie sind irgendwann nicht mehr da. Wie sehr es einen wirklich trifft, weiß man meistens vorher nicht. Bei der Nachricht, dass Neil Peart gestorben ist, habe ich ein paar Tränchen verdrückt. Der heutzutage automatische Gedanke daran, dass es sich um eine Falschmeldung handelt, die da kursieren könnte, war gar nicht so präsent – zu groß war die Ahnung, dass das stimmen könnte. Vor gut vier Jahren hatte er sich schließlich von Rush zurückgezogen. Und wenn öffentliche Termine anstanden, waren es Geddy Lee und Alex Lifeson, die auftauchten. Nun zu erfahren, dass er schon jahrelang mit einem Hirntumor zu kämpfen hatte, macht das Herz noch etwas schwerer. Musste dieser feine Kerl noch so zu leiden haben in einer Lebensphase, in der andere 'Rentner' fidel ihren Ruhestand genießen? Mit seiner zweiten Frau und einer gerade mal zehn Jahre alten Tochter, mit denen er zusammen in Kalifornien lebte … dieser Neil Peart, der Ende der 90er seine erste Frau und die gemeinsame Tochter binnen zehn Monaten verloren hatte, durch einen Autounfall und … ja, auch Krebs.
»Suddenly… You were gone… from all the lives you left your mark upon. In loving memory of Jackie and Selena«
Diese Textstelle aus "Afterimage", die nun wieder so schmerzlich oft von Rush-Anhängern zitiert wird, steht auf der CD-Hülle des Live-Albums "Different Stages" von 1998. Und dieses Album war 'aktuell' zu der Zeit, als ich als Spätgeborener und -berufener glühender Fan geworden bin. Es war genauso aktuell wie die Auszeit, in der sich die Band nach Neil Pearts Schicksalsschlägen befunden hatte. Seine beiden Freunde hatten Neil Peart alle Zeit der Welt gegeben; nicht einmal sie konnten absehen, ob es Rush jemals wieder geben würde. Neil Peart hatte über Jahre keinen Drumstick in der Hand. Er fuhr allein mit dem Motorrad quer durch Afrika und schaffte es irgendwie, Wunden heilen zu lassen und die Narben so erträglich zu machen, dass er zurückkommen wollte – und zurückkam. Was war das für ein Fest, als Rush verkündeten, dass es ein neues Album geben würde. "Vapor Trails" (2002). Ich hielt es zum ersten Mal – zufälligerweise – an meinem Geburtstag in der Hand. Es waren Gäste da. Trotzdem war ich zuerst einmal kurz verschwunden, um mir zumindest den Opener "One Little Victory" anzuhören.
Ein paar kleine 'Victories' hatte ich als Rush-Spätie dann auch noch – denn ich kam ein paar Mal in den Genuss, die Band live zu sehen. Das war schon immer eine große Sache und extrem beeindruckend, denn für die paar wenigen Tourtermine in Deutschland buchten Rush (natürlich) die ganz großen Hallen. Und bei jedem Gig kreisten die Gedanken auch immer um Neil Peart … den großen geheimnisvollen Herrn – immer schüchtern und zurückgezogen; Interviews gab er selten. Da passte es irgendwie, dass er auch auf der Bühne 'geschützt' wirkte durch sein Drumset wie aus einer anderen Welt. Das wirkte mit allem, was er so an Geräuschmachern brauchte, von 'Spezialeffekten' für "Xanadu" bis zu den elektronischen Spielereien für die Songs der 80er-Ära quasi wie eine Sammlung von Jahresringen aus seiner kompletten musikalischen Karriere. Und es hat ihn komplett 360 Grad umgeben – wie unfassbar cool! Und es hat sich auf Kommando so gedreht, wie er es brauchte. Was für eine Show! Bei anderen Bands gehen Leute während des Schlagzeugsolos aufs Klo. Bei Neil Peart … na ja, wem brauch ich da etwas zu sagen.
Wie sehr Neil Peart die Schlagzeugerzunft inspiriert und geprägt hat, das sagen die Drummer besser selbst. Unzählige haben es schon getan – beeindruckend, wie sehr die Nachricht Neil Pearts Fans und Mitmusiker bewegt. Viele berichten von beruflichen Zufallsbegegnungen, die binnen Minuten zu einer ganz persönlichen Begegnung und offenen, sympathischen Gesprächen wurden, obwohl man einander eigentlich gar nicht kannte (Todd Sucherman, beispielsweise). Aber Neil Peart war nicht nur eine Legende unter Schlagzeug-Kollegen; er war ja auch der Texteschreiber der Band. In beinahe jedem Song steckt so viel Neil Peart! Er hat Literatur verschlungen und Einflüsse verarbeitet von William Shakespeare über Ayn Rand bis John Dos Passos, von Mythen, Religion, Philosophen, Soziologen und Science-Fiction-Autoren, ja sogar Steam Punk. Es gibt sogar ein Buch, das sich nur mit den Referenzen, Inhalten und Anspielungen in den Texten von Rush beschäftigt. Natürlich steht auch dieses in meinem Regal. Auch selbst hat er Bücher geschrieben – sehr persönliche, über seine Reisen. Mit allem was das Wort 'Reise' bedeutet.
Sie nannten ihn 'The Professor' – nicht (nur) die Fans, sondern seine eigenen Bandkollegen. Auch das passt alles zu diesem Typ, der eben eher introvertiert war. Und daran hätte alles scheitern können. Beim Vorspielen im Sommer 1974, nach der Trennung von Pearts Vorgänger John Rutsey, fanden die anderen diesen 21 Jahre alten Typen ziemlich … na ja, Geddy Lee sagte rückblickend vor ein paar Jahren 'goofy'; und Alex Lifeson erinnert sich in der Band-Doku "Beyond The Lighted Stage": »Oh Gott, der ist nicht mal annähernd cool genug, um in dieser Band zu sein.« Zum Vorspielen kam Peart mit dem Auto seiner Mama und hatte die Einzelteile seines Drumsets darin aufwändig in Mülleimern verstaut. Als die Trommeln aufgebaut waren und Neil Peart schließlich loslegte, war es um Lee & Lifeson geschehen. Wie cool der Typ tatsächlich war, stellte sich dann bald heraus. Mit ihm konnten sie eben nicht nur hoch hinaus und ihre Ansprüche an die eigene Musik weiter und weiter nach oben schrauben, sondern auch Pferde stehlen und Faxen machen. Selbstironie war ihm genauso wenig fremd wie den anderen beiden – für Hintergrundvideos für Tourneen haben die drei schon mal Instrumente getauscht oder sich durch Schimpansen ersetzen lassen.
Jetzt bleibt zu hoffen, dass die Priester der 'Tempel von Syrinx' den 'Ghost Rider' mit allen erdenklichen Ehren bei sich aufnehmen.
Danke Marc und Hank, dass ihr mir diese Band noch näher gebracht habt, als sie mir ohnehin schon war.
Verdammt, Neil Peart ist gestorben.
Nicht zu fassen, wie viel verloren geht.
Nicht zu fassen, wie viel bleibt.
1 Kommentar
Mario Keim
12. Januar 2020 um 19:44 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Von einem ehemaligen Auftraggeber aus Pressezeiten, der mir einst eine Rush-CD geschenkt hatte und selbst großer Fan dieser Band war, habe ich soeben nach Übermitteln der traurigen Nachricht erfahren, dass der außergewöhnliche Schlagzeuger 1997 seine Tochter durch einen Autounfall und 1998 seine damalige Frau durch Krebs verlieren musste – diese beiden Jahresangaben als Ergänzung zum Hinweis im vorliegenden Text. Jetzt ist er selbst viel zu früh gegangen. Die Trauer ist offensichtlich grenzenlos!
LG Mario