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Sie nennen ihn "Poor Boy" – Zum 75. Geburtstag von Stan Webb

Sie nennen ihn "Poor Boy" - zum 75. Geburtstag von Stan Webb

Erfolgstechnisch ist der als Stanley Frederick Webb – den Blues- und Blues Rock-Freunden unter uns als Stan Webb bekannt – im Nordwesten Londons geborene Gitarrist nie wirklich auf den obersten Sprossen der Leiter angekommen. Aber was Erfolg eigentlich bedeutet, liegt sowieso immer im Auge des Betrachters. Der Engländer ist seit dem Jahr 1964 im Musik-Business aktiv, als er bereits sehr früh damit begann, seine ersten Bands zu gründen. 1967 kam es zur Umbenennung seiner Combo in Chicken Shack und das Quartett befand sich plötzlich mitten drin in der damals neu aufkommenden Blues-Welle Englands. Recht schnell wurde ein Deal mit dem Label Blue Horizon Records unter Dach und Fach gebracht und somit entpuppte sich der Vierer plötzlich als knallharte Konkurrenz zu Fleetwood Mac, Savoy Brown und Konsorten.

Nach nur zwei Alben stieg die Pianistin und Sängerin Christine Perfect (spätere McVie, die mit Fleetwood Mac zum Superstar werden sollte) aus und wurde durch Paul Raymond (später UFO u. v. m.) ersetzt. In der Besetzung Stan Webb (guitars, vocals), Paul Raymond (piano, organ), Andy Silvester (bass) und Dave Bidwell (drums) enstanden zwei weitere sehr starke Alben, von denen vor allem das letzte ("Accept Chicken Shack", 1970) sich doch deutlich vom reinen Blues der ersten drei Scheiben entfernte und sich auf in erheblich rockigere Gefilde machte. Als Trio entstand 1971/72 die bärenstarke Scheibe Imagination Lady und anschließend (wieder mit mehr Personal) das etwas schwächere Unlucky Boy (1973), bevor Webb die Band – wahrscheinlich wegen zu geringen Verkaufszahlen – auflöste.

Er machte einen Abstecher zu Savoy Brown (Album: Boogie Brothers, 1974) und gründete anschließend die Band Broken Glass, die es ebenfalls nur auf eine gleichnamige Scheibe brachte. Guter Rat war teuer und so entschied sich der gute Stan für die offensichtliche Variante, nämlich Chicken Shack wieder zu reformieren. Seit 1977 erschienen sporadisch Studio-, dafür mit schöner Regelmäßigkeit aber immer wieder Live-Alben. Das letzte neue Studiomaterial veröffentlichte der Brite im Jahr 2001 in Form seiner ersten und einzigen Soloplatte "Webb".

Stan Webb war nie – auch nicht während des Blues Booms in England Ende der sechziger Jahre – nur einer von Vielen, sondern hatte sowohl gesanglich, vor allem aber auf der Gitarre seinen ganz eigenen Stil drauf, der ihn – wäre die Welt gerecht – auf eine Stufe mit Peter Green und vielen weiteren Stars der damaligen Zeit hätte stellen sollen. Aber das stand wohl nicht in den Sternen und hin und wieder läuft einem doch immer wieder jemand über den Weg der zu berichten hat, dass diesbezüglich ein unglückliches Händchen bei der Wahl der Manager sowie eine gewisse Exzentrik (mindestens sechs bekannte Ehen und ein Hang zu den eher ungesunden Dingen, die einem Musiker während seiner Karriere so über den Weg laufen können) nicht ganz schuldlos waren.

Der Verfasser dieser Zeilen fand sich im Jahr 1986 eigentlich ganz unbedarft und ohne bis dahin einen Song der Band gekannt zu haben zu einem Konzert von Chicken Shack in Dragan’s Waldcafe in Saarbrücken/Dudweiler ein und durfte einen Abend erleben, den er nie wieder vergessen wird. Stan Webb und seine damaligen Bandmitglieder hatten musikalisch einen göttlichen Tag erwischt, der Blues, Rock und jede Menge 'Rockstar-Klischee' (die hochprozentigen Erfrischungen wurden gleich aus Flaschen getrunken, was gegen Ende der Show dann auch deutliche Spuren bei der Feinmotorik einiger Musiker erkennen ließ) vermischte. Seitdem habe ich aufgehört zu zählen, wie oft ich die Band live gesehen habe. Wobei es auf der Bühne nie wieder so feucht-fröhlich zugegangen ist, wie bei meinem ersten Konzert. Das letzte Mal übrigens (nach einer zugegebenermaßen längeren Pause) im Herbst 2019, kurz vor dem Lockdown.

Wer Stan Webb und Chicken Shack bisher noch nicht für sich entdeckt hat, sollte dies unbedingt nachholen. Sämtliche Alben der Siebziger (egal ob mit Chicken Shack, Broken Glass oder Savoy Brown) sind unbedingt zu empfehlen, aber auch die ganz frühen, doch sehr am puristischen (elektrischen) Blues orientierten Platten sind klasse, ebenso wie die Werke der frühen Neunziger in Form von "Changes" (die Produktion muss man mögen, aber die Songs an sich sind klasse) sowie das sehr gute "Plucking Good".

Dass tatsächlich nochmal ein Studioalbum von Chicken Shack mit neuem Material erscheinen wird darf bezweifelt werden, aber live auf der Bühne ist deren Bandleader immer noch für verdammt starke Abende gut. Die RockTimes-Redaktion gratuliert jedenfalls ganz herzlich zum 75. Geburtstag, Stan. Auf dass du uns noch lange erhalten bleibst und wir noch viele Konzerte von dir erleben dürfen.


Album-Tipps:

  • Chicken Shack – "100 Ton Chicken" (1969)
  • Chicken Shack – "Accept" (1970)
  • Chicken Shack – "Imagination Lady" (1972)
  • Savoy Brown – "Boogie Brothers" (1974)
  • Chicken Shack – "The Creeper" (1977)
  • Chicken Shack – "Simply Live" (1987)
  • Chicken Shack – "Plucking Good" (1992)

Über den Autor

Markus Kerren

Hauptgenres: Roots Rock, Classic Rock, Country Rock, Americana, Heavy Rock, Singer/Songwriter
Über mich
Meine Beiträge im RockTimes-Archiv
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Meine Konzerberichte im Team mit Sabine
Mail: markus(at)rocktimes.de

3 Kommentare

  1. Manfred Saler

    Geburtstag und kein Nachruf …… Sehr erfreulich !!!!!! Klasse Biografie, Markus !!!!
    Chicken Shack war die erste "Iinternationale Band" welche ich Live gesehen habe. Muß
    so 1968 (???) in der Niedersachsenhalle Hannover gewesen sein. Waren Support für
    Ten Years After. Spielten den Hauptact aber ziemlich an die Wand ………… Das Besondere für
    die damalige Zeit: Stan Webb mischte sich mit einem riesenlangen Kabel an der Gitarre unter das begeisterte
    Publikum. Sender gab es damals wohl noch nicht ………..
    Habe die Band bzw. Stan Webb später oftmals Live erlebt. Waren ja Stammgast in der Blues Garage Isernhagen.
    Einige Konzerte waren absolute Spitze, andere weniger ……… Lag halt immer an der "Tagesform" vom Stan ……..

  2. Mario

    Eine schöne Würdigung eines außergewöhnlichen Musikers, erfreulicherweise zum Geburtstag und nicht als Nachruf. Stans Gruppe war mir als Bluesband bekannt mit Musik, die nicht unbedingt meinen damaligen Geschmack traf. In einer Disco in Kiel wurde dann aber 1970 oft ein Titel gespielt, der meine Aufmerksamkeit erregte: Telling your fortune. Im Juli 1971 war ich dann erstmals in London, angezogen von der Musikszene, und eines der ersten Konzerte war im Marquee mit Chicken Shack. Ich erwartete klassischen Blues und hörte stattdessen Bluesrock, der mich umhaute. Auf der Bühne war das Trio, das die etwas später veröffentlichte LP Imagination Lady einspielte. Besonders in Erinnerung geblieben ist die Version von If I Were A Carpenter, voller Energie, der Schlagzeuger warf sich regelrecht in sein Instrument hinein. Der Baß knurrte und dann dieser Gitarrist, der nicht gleichzeitig spielen und singen konnte oder wollte, die linke Hand am Griffbrett und die rechte am Ohr, wenn er sang. Es war einfach toll, leider blieb die Gruppe nicht lange zusammen und hatte nicht den kommerziellen Erfolg, den sie verdiente. Stan habe ich dann im Laufe der Jahrzehnte noch oft gesehen, er war immer gut und hatte stets erstklassige Musiker um sich herum. Er enttäuschte nie, war auch durchaus zugänglich, aber er blieb immer ein wenig auf Distanz. Meine Autogrammwünsche hat er reichlich erfüllt, auch beim letzten Auftritt vor ein paar Jahren in Kiel, wo er sich aber auch nur kurz nach dem Auftritt sehen ließ. Es war typisch für ihn: er kam mit dem Bier in der Hand, gab ein paar Unterschriften und sagte dann zu mir „I need a fag and a beer“, also eine Zigarette und ein Bier, das er schon dabei hatte. Weg war er, ohne Rücksicht darauf, dass noch weitere Leute etwas von ihm wollten. Auch ich gratuliere ihm herzlich und danke für die erstklassige Musik, wer sie nicht kennt, dem sei die CD Simply Live empfohlen.

  3. raimund reinisch

    hallo markus, tolle biografie eines außergewöhnlich tollen musikers, habe einige seiner werke – ebenso savoy brown und broken glass, durfte stan auch 2mal live erleben inklusive autogramm, würde mir auch wünschen ihn nochmals live zu erleben

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