»Die Musik von Sonora Sunrise ist transparent und leicht wie der Wind. Und manchmal ist sie gnadenlos wie der Sturm in der Wüste«. So beschreiben sich die Künstler der russischen Band Sonora Sunrise selbst und, ehrlich gesagt, treffender kann man es kaum ausdrücken. Dass die originäre Herkunft von Musikern Einfluss auf ihr Werk nehmen kann ist hinlänglich bekannt. Selbst wenn die betreffenden Protagonisten das selbst gar nicht immer so empfinden, wie beispielsweise im Fall des norwegischen Jazz-Gitarristen Terje Rypdal.
Artem Demidov, Dmitriy Shershnev, Alexey Shulepov und Vitaliy Khard stehen offensiv für das Konzept, die archaische Landschaft ihrer Heimat in Klänge zu verwandeln. Und was ist das für eine faszinierende Heimat. Das Altaigebirge liegt fast im Zentrum der eurasischen Landmasse. Im Norden verliert es sich in den weiten Steppen der sibirischen Taiga und entsendet die beiden mächtigen Ströme Ob und Irtisch zum Polarmeer. Im Osten geht der Gebirgszug in die teils steinige, weithin aber auch fruchtbar grüne Wüste Gobi über, während im Süden der Glut-Ofen der Sand-Wüste Taklamakan brennt. Der Altai ist eines der einsamsten und schönsten Gebirge unseres Planeten mit faszinierender Flora und gewaltigen Gletschern. Ein Hort der Mythen und Schamanen – man bekommt allmählich eine Vorstellung davon, wohin die musikalische Reise auf dem ersten physischen Album der Band hinführen wird. Die Route durch den Canyon lässt stimmungsvolle Bilder im Kopf erwachsen, die sich mit den heimischen Eindrücken der Musiker zu einer multi-kulturellen Melange verbinden.
Sphärisch esoterische Klänge erklingen in krautrockigen Ansätzen, zitieren gespenstisch anmutende Erscheinungen aus den Tiefen einer unergründlichen und sehr fernen östlichen Seele:»Creatures crawlin from the shadows« flüstert eine geheimnisvolle weibliche Stimme (die von Ekaterina Zlobina) im ersten Teil von "Ancient Stone", dem Intro eines dreiteiligen Werks, welches uns über das gesamte Album wie eine Klammer begleitet. Zeitlos wie die Felsen des ewigen Altai.
Die Band antwortet im zweiten Song, "Welcome To The Sandland", in einem hypnotischen Flow, der in seinen durchaus eingängig sich entwickelnden Hooks eine erstaunliche Bruderschaft nach Aschaffenburg ausweist. Dort, oder besser in der Umgebung treiben My Sleeping Karma schon seit einigen Jahren herrliche fernöstliche Experimente, die hier aus einem unendlich weit entfernten, sibirischen Gebirgstal wie ein Echo zurückgeworfen werden. Ich erinnere mich plötzlich, dass der Gitarrist von Sonora Sunrise oft und gerne in Indien und Indonesien weilt. Verschmelzen hier etwa irgendwie die kulturellen Einflüsse Fernasiens mit denen weltoffener Sibirier und Nordbayern?
Über einem verhältnismäßig poppigen Schlag mäandert vornehmlich die Gitarre in "Welcome To The Sandland" in eine scheinbar endlose Landschaft. Schamanische Gesänge verfremden den Song zum Ausgang hin in eine transzendentale Erfahrung.
"Unexpected Trip" wird zumindest für hiesige Zuhörer zu einer wörtlich zu nehmenden Aussage. Wunderbar historisch anklingende, analoge Tasten-Sounds grooven uns in die seligen Siebziger und ihre Kraut Rock-Eskapaden. Es lässt sich überall nachlesen, dass Dmitry Shershnev über eine äußerst umfangreiche Sammlung alter russischer Synthesizer und Keyboards verfügt. Und er bringt sie stilistisch herrlich retrobehaftet ein. Hier und da erinnern mich die Hintergrund-Sounds an die Arbeiten eines Eberhard Schöner. Der ließ die Rhythmen oft ähnlich entspannt dahinfließen wie in diesem Song. Ach ja, und der befasste sich ja auch ganz massiv mit der Musik Indonesiens, was mich schon einmal ein Stück weit auf die nächste (in Kürze folgende) Review schauen lässt.
Doch wie erdig die Akteure von Sonora Sunrise sich ihrem Heimatplaneten verschreiben spiegelt schon der Bandname wider. Der steht nämlich auch für einen wunderschönen, rot-grün-schwarzen, kupferbasierten Schmuckstein, dem die Esoterik einige heilsame Wirkungsweisen zuspricht. Verbunden mit den schamanischen Hintergründen ergibt dies ein stimmiges Konzept, auch wenn das Gestein weitgehend in Mexico abgebaut wird.
"Poison" ist auch erdig. Eine geile psychedelische Gitarre legt sich über ein fast schon stonermäßig groovendes Gerüst und repetiert und kurvt wie einst The Egocentrics so schön über ein hier besonders dezentes Erblühen sanfter Keyboard-Töne. Es entsteht ein unwiderstehlicher Sog – nicht spektakulär, aber unausweichlich und zielgerichtet. Die archaischen Landschaften Zentralasiens erwachsen allmählich im hinteren Kleinhirn, während der Song in den Weiten der Wüste Gobi zu entschwinden scheint. Und Ekaterina gibt einen kurzen Hauch hinzu ("Ancient Stone – Uprise Of Jupiter", dem zweiten Teil des Openers, der uns auch das Ende vermitteln wird).
Vermutlich nur, um in das unendlich fuzzig zirkulierende "Canyon" einzuleiten, einem Hauptthema des Albums. Hier scheinen Hippie-Sounds des Sechziger-Jahre-Westcoasts der Marke Jefferson Airplane in die Steppen Mittel-Asiens getrieben zu werden. Friedfertig dümpelnde Keys werden von acidschwangeren Gitarren und treibenden Gesängen mehr und mehr übermannt, die hier tatsächlich ein wenig an Grace Slick erinnern. So treibt der Song ohne eine bestimmte Richtung erkennen zu lassen dahin und schwebt mit uns durch eine menschenleere, niemals endende Wüste, wobei die Band ausdrücklich betont, dass hier nicht reale Landschaften der Komposition zugrunde liegen. Der Pfad durch den Canyon ist eher als Bewusstseins-Trip zu verstehen.
Und in der Wüste blüht der Stoner. "Millions Of Snakes" führt uns genau dorthin. Großartig groovende, repetitive Riffs und Hooks treiben über einem erhabenen Rhythmus-Gerüst unbeirrbar nach vorn. Jetzt ist Schluss mit verspielten Applikationen, jetzt gibt es erst einmal Vollgas und keine Gnade. Doch auch im zweiten, völlig zurück genommenen Part des Songs, wenn das wirklich gefühlvoll sanfte Getaste ganz massiv an Volker Kahrs (Mist) von Grobschnitt und seine wunderschönen Untermalungen in "Solar Music" erinnern, geht der Flow des Songs nie verloren.
Ich habe in den letzten Wochen einige höchst interessante Projekte in meinen Player einlegen dürfen und das wird sich in den nächsten Tagen und Wochen nicht ändern, wenn die musikalische Tour De Force von Russland über Indonesien nach Tunesien führen wird. Sollte ich aber einen Preis für Eigenständigkeit, Bodenhaftung und intuitiv spirituelle Vielseitigkeit vergeben dürfen, ich würde den in Richtung Sibirien eintüten.
In diesen Tagen zeigt sich wieder einmal, dass Musik eine unfassbar integrative Kraft besitzt. Sonora Sunrise besitzen ein unschlagbares Konzept, fremde Welten zusammen zu führen – nicht nur in ihrer eigenen, faszinierenden und uralten Kultur.
Ich freue mich sehr, ein faszinierendes Werk vorstellen zu dürfen aus einem Land, an dem sich die hiesigen Meinungsverbreiter und staatlich bezahlten Erklär-Bären permanent und mindestens genauso sehr versündigen wie an der Wahrheit über die Zustände im eigenen Land. Und deren Opfer!
Nicht aus Russland kommt die Aggression, aber transatlantische Freunde des Geldes und der Rüstung sowie geopolitische Strategen, die eurasische Rohstoffe wie Trüffel-Schweine wittern, brauchen ein Feindbild, um ihre perversen Ziele zu verkaufen. Ich werde ihnen nicht auf den Leim gehen!
Und wenn der dritte und letzte Part von "Ancient Stone" sehr ambient reflektiert und in mystisch entschleunigten Sound-Mustern zu Ende geht, dann fühle ich neben einer nachhaltigen Erinnerung an David Sylvians grandioses "The First Day" eine sanfte Gänsehaut. Da kommt Musik aus den Steppen und Gebirgen einer so fernen Welt zu uns und verblüfft mit einem derart gefühlvollen und ermunternd kreativen Mix. Spacerock, Stoner, Ambient in Form gebracht durch sibirische Einflüsse, mystisch historische Bezüge und schamanische Meditationen.
Völkerverständigung auf kultureller Ebene ist immer noch die wertvollste Möglichkeit für ein weltweit friedvolles Miteinander.
Ein Klasse Album, musikalisch erdverbunden und mit ganz viel Spirit.
Line-up Sonora Sunrise:
Artem Demidov (guitar, synth)
Dmitriy Shershnev (guitar, keyboards)
Alexey Shulepov (bass)
Vitaly Khard (drums)
Guest:
Ekaterina Zlobina (vocals – # 1,5,6)
Tracklist "The Route Through The Canyon":
- Ancient Stone (Sundown)
- Welcome To The Sandland
- Unexpected Trip
- Poison
- Ancient Stone (Uprise Of Jupiter)
- Canyon
- Millions Of Snakes
- Roadside Picnic
- Ancient Stones (Planetary Standoff)
Gesamtspielzeit: 50:16, Erscheinungsjahr: 2019
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