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T Bear / Fresh Bear Tracks – CD-Review

T Bear / Fresh Bear Tracks

Ein ungewöhnlicher Bär inmitten musizierender Extraklasse

Hierzulande lag der Anteil des Audio-Streamings im Geschäftsjahr 2020 bei 63,4 Prozent, Tendenz steigend. Traditionelle physische Tonträger wie CD und Vinyl kamen zusammen auf gerade mal noch 27,1 Prozent, wobei sich Vinyl erstmals nach langer Zeit wieder auf Rang drei geschoben hatte und bei einem Marktanteil von 5,5 Prozent eine Umsatzsteigerung von 24,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr verzeichnen konnte.

Vor diesem Hintergrund flatterte dem Rezensenten nun eine CD auf den nicht vorhandenen Home-Office-Keller-Schreibtisch, welche am 16.04. ihre Veröffentlichung feierte … aber tatsächlich nur als Polycarbonat und natürlich auf den diversen Streamingservern, aber weit und breit keine Vinylausgabe … ungewöhnlich.

Ungewöhnlich ist überhaupt vieles an diesem Album. Das geht mit etwas los, was einem alle Streaminganbieter dieser Welt nicht bieten können: Die Liner Notes!
Der Rezensent muss zugeben, selbige recht selten zur Kenntnis zu nehmen, aber in diesem Fall ist das anders. Es beginnt mit den Worten:
»I hope you will read this notes because I’m writing them with tears of joy and sorrow running down my face.« Zum Schluss dieser unfassbar emotionalen und offenen Zeilen stellt sich heraus, dass der Künstler mit diesem Album eine Hommage an seine verstorbene Ehefrau geschaffen hat, welche allerdings ohne deren Antrieb und Inspiration erst gar nicht entstanden wäre.

Und da kommen wir direkt zur nächsten Ungewöhnlichkeit: Der Künstler hat sein letztes Album vor sage und schreibe 35 Jahren veröffentlicht … via Teldec in Deutschland, obwohl er doch ursprünglich aus New York City stammt.

Aber welcher Künstler überhaupt?
Auf diesem Album nennt er sich T Bear, in den Songcredits ist von einem gewissen Richard M. Gerstein zu lesen und das weltweite Sammler-Portal Discogs weiß zu berichten, dass der gute Mann unter Richard T Bear firmiert und 1978 mit "Red, Hot & Blue" sein Albumdebüt feierte, auf welchem sich Prominenz wie Billy Squier, Elliott Randall (Session-Gitarrist für u.a. Steely Dan, Joan Baez, Peter Criss, Gene Simmons, Helen Schneider oder Inga Rumpf), Les Dudek (beispielsweise Allman Brothers Band), Mike Finnegan (The Jimi Hendrix Experience, Big Brother & The Holding Company, Dave Mason, Rod Stewart, Stephen Stills, Ringo Starr, Tracy Chapman oder Bonnie Raitt) oder die Blechgebläse-Legenden Michael & Randy Brecker tummelt und welches in Form eines Remixes ein bis heute in einschlägigen Dance-Etablissements gerne gespieltes Disco-Elaborat namens "Sunshine Hotel (Just Walk On In)" abwarf.

Wer in das Kleingedruckte im aufklappbaren Digi-Sleeve schaut – übrigens ein weiterer Aspekt, mit welchem die ganz großen Streaminganbieter nicht aufwarten können – wird aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Als Kernmannschaft agieren Tony Braunagel (in den 1970er Jahren Haus und Hof-Schlagwerker für Island Records, zusätzlich Mitglied von Back Street Crawler mit Paul Kossoff … in den 1980er Jahren beispielsweise Haus und Hof-Schlagwerker für Bonnie Raitt), Lenny Castro (über 1000 eingetragene Beteiligungen) als Herr der Perkussion, Bob Glaub (u.a. Jackson Brown, Linda Ronstadt), Hutch Hutchinson (neben Hunderten anderen mal wieder Bonnie Raitt) und Reggie McBride (neben Hunderten u.a. Rare Earth, Ry Cooder oder Rod Stewart) für die tiefen Töne, Josh Sklair (u.a. späte Etta James) für das Saitenspiel und ein weibliches Gesangstrio für den Backing-Chor, wobei eine Dame davon bereits in den 1960er Jahren bei den Ikettes (Ike & Tina Turner) aktiv war (Paulette Parker, die auf diesem Album unter Maxanne Lewis firmiert).

Als Kirsche auf der Torte haben es T Bear und sein Produzent Tony Braunagel geschafft, Größen wie Walter Trout, Mike Finnigan, Benmont Tench (Tom Petty & The Hearbreakers), Johnny Lee Schell (die unvermeidliche Bonnie Raitt), Edgar Winter, Larry Taylor (vermutlich eine der letzten Aufnahmen des im August 2019 verstorbenen Canned Heat-Bassisten der fast ersten Stunde), Robbie Krieger (Doors) oder Stephen Stills (Buffalo Springfield, CSN) zu gewinnen. Das lässt auf ein unglaublich gutes Netzwerk schließen und tatsächlich hat Mr. Gerstein in der Vergangenheit bei so unterschiedlichen Acts wie Inga Rumpf (1979), Peter Criss und Gene Simmons (beide 1978), The Blues Brothers (Original Soundtrack 1980), Billy Squier (1980) oder Crosby, Stills & Nash (1982) mitgewirkt, wo sich manche Bande knüpfen ließ und interessante personelle Querverweise bei seinen beiden eigenen Alben von 1978 und 1979 ergaben. Noch 1979 siedelte er über den großen Teich nach Deutschland und veröffentlichte hier ein Live- und zwei Studioalben. Dann war plötzlich Schluss, das Netz weiß von persönlichen Problemen zu berichten, inklusive Drogen.

Und nun taucht er wieder auf, angetrieben von seiner Ehefrau Nina, der er im abschließenden "Nina’s Song" ein absolutes Gänsehaut-Monument setzt. Insgesamt kann der Rezensent konstatieren, dass der Name Bonnie Raitt bei dem ganzen vorangegangenen Name-Dropping nicht zufällig mehrmals gefallen ist. Aufgenommen in Robbie Kriegers 'Horse Latitudes Studio' und Johnny Lee Schells 'Ultratone' Studio kreiert das Ensemble einen Sound, der nicht selten an das musikalische Output besagter 'Grande Dame' gemahnt. Es versteht sich wohl von selbst, dass dabei keine Party-Platte im eigentlichen Sinne herausgekommen ist. Allerdings lässt es sich der Protagonist nicht nehmen, auf "I Don’t Care" zu funkiger James Brown-Attitüde sein altes "Sunshine Hotel"-Schlachtschiff zu reanimieren. Beim Opener "Bring On The Night" – keine Reanimation, sondern gleich ein Remake von seinem ersten Album – gemahnt T Bear dagegen an Bob Seger & The Silver Bullets zu besten Zeiten, in "Dear John" zelebriert er eine Art "Liebeserklärung" für den späten John Prine (starb Anfang April 2020 als eines der ersten prominenten Opfer durch COVID-19), während "Cab Calloway" luftig, leichtfüßig und mit der richtigen Atmosphäre an den 'Minnie The Moocher-Blues Brother' erinnert.
Aus dem Rahmen fällt das zusammen mit seiner Frau geschriebene "Wonderland", in welchem T Bear den mystischen Sprecherzähler gibt und der Rezensent nicht zum ersten Mal den abgedruckten Text vermisst. Denn diesbezüglich hat T Bear einiges zu sagen und zu verarbeiten … das ist beim Hören auch ohne große Sprachkenntnisse beinahe mit Händen zu greifen.

Von dem erwähnten und beeindruckenden Staraufgebot können den Rezensenten insbesondere Walter Trout mit einem Strat-Signatur-Sound à la Eric Clapton und der fantastische Background der Damen Maxanne Lewis, Kudisan Kai (ehemals Natalie JacksonAnita Baker, Bobby Womack, Elton John), Gia Ciambotti (Lucinda Williams, Bruce Springsteen) & Melodye Perry (Eric Burdon, Zucchero, U2, Beyonce, Michael Jackson) begeistern.

Fazit: Ein besonderes Album, welches in seiner tendenziellen Schwermut nicht immer passt, gleichwohl aber auf einem unfassbar hohen Niveau eingespielt ist, trotz seines zeitlich und personell uneinheitlichen Aufnahme- und Entstehungsprozesses erstaunlich homogen tönt und mit einem Protagonisten glänzt, der stimmlich irgendwo zwischen Bob Seger und Kenny Loggins pendelt und einem bereits beim Lesen der Liner Notes unweigerlich ans Herz wächst.
Der Polycarbonat-Rundling offeriert insgesamt tolle Songs, die neben der erwähnten Schwermut durchaus musikalische Abwechslung, Bandbreite und Optimismus zu bieten haben … da kommen beispielsweise auch die geneigten Hörer*innen eines Randy Newman auf ihre Kosten.
Und ganz nebenbei sind die "Fresh Bear Tracks" ein Plädoyer für den guten alten Tonträger, so dass hoffentlich bald eine Vinyl-Veröffentlichung nachgeschoben wird. Für das bloße Konsumenten-Streaming zum Nebenbeihören ist dieses Album viel zu schade!


Line-up T Bear:

T Bear (lead vocals, piano – #1,4-6,8-12, Wurlitzer – #2, clavinet – #7)
Maxanne Lewis (background vocals – #1-5,7,9,11)
Kudisan Kai (background vocals – #1,3,5,9)
Gia Ciambotti (background vocals – #1,4,5,7,9,11)
Melodye Perry (background vocals – #2,4,7)
Tony Braunagel (drums – #1-10)
Denny Siewell (drums – #11)
Lenny Castro (percussion – #1,2,4,6,7,9,11)
Kevin Ricard (percussion – #3,5,10)
Bob Glaub (bass – #1,6,9)
Hutch Hutchinson (bass – #2,4,7)
Reggie McBride (bass – #5,10)
Larry Taylor (bass – #3)
Chuck Berghoffer (upright bass – #8)
Paul Ill (bass – #11)
Josh Sklair (guitar #1,2,4,5,7-9,11)
Doug Pettibone (slide & rhythm guitar – #1, electric guitar – #6, guitar – #9, steel guitar – #10)
Walter Trout (lead guitar – #1,2,9)
Stephen Stills (lead guitar – #9)
Laurence Juber (guitar – #2, acoustic guitar – #6)
John Notto (guitar – #4,7)
Johnny Lee Schell (guitar & cigfiddle – #3)
J.J. Blair (guitar – #10)
Robbie Krieger (slide guitar – #10)
John Woodhead (guitar – #11)
Stevie Blacke (lap steel & guitar – #5, strings – #6,8,12)
Mike Finnigan (Hammond B3 – #1,4,7-9)
Benmont Tench (Hammond B3 – #2,6,11, Wurlitzer – #11)
Max Butler (organ – #5)
Joe Sublett (tenor saxophone – #1,7,8,9, baritone saxophone – #9)
Mark Pender (trumpet – #1,7,9,11)
Tom Scott (tenor saxophone – #4)
Edgar Winter (saxophone – #5)
Richie Rosenberg (trombone – #7)

Tracklist "Fresh Bear Tracks"

  1. Bring On The Night (5:30)
  2. Cleopatra (4:50)
  3. Dear John (3:54)
  4. Cab Calloway (4:43)
  5. River Of Resurrection (5:04)
  6. Love To Be Lonely (3:10)
  7. I Don’t Care (4:22)
  8. Woe Is Me (4:19)
  9. Give It Up (4:08)
  10. Wonderland (6:16)
  11. She’s Not There (4:16)
  12. Nina’s Song (5:18)

Gesamtspielzeit: 55:50, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Olaf 'Olli' Oetken

Beiträge im Archiv
Hauptgenres (Hard Rock, Southern Rock, Country Rock, AOR, Progressive Rock)

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