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The Band / Stage Fright – LP-Review

The Band - "Stage Fright" - LP-Review

Im Jahr 1970 war das Geheimnis, das große Mysterium um The Band bereits gelüftet. Etwa zwei Jahre zuvor war mit "Music From Big Pink" deren Debütalbum erschienen, das gehörig Wirbel in der Szene ausgelöst hatte. Einigen gut Informierten war zwar bekannt, dass das Quintett davor für einige Zeit als Begleitband für Bob Dylan fungiert hatte, dem Gros der Fans waren diese bärtigen und fast schon einem anderen Jahrhundert entsprungen zu scheinenden Sonderlinge jedoch ein ziemliches Rätsel.
Geschürt wurde dies obendrein noch dadurch, dass keine Tour folgte und auch keine Fernseh-Auftritte geliefert wurden. Erst nach der (bzw. kurz vor Fertigstellung) des gleichnamigen zweiten Werks (das sogar noch erfolgreicher wurde) spielte die Combo eine Reihe von Konzerten im Fillmore West in San Francisco (vor denen der komplett erschöpfte Robbie Robertson zusammenbrach und nur durch Hypnose auf die Bühne konnte – der Ursprung des Songs "Stage Fright", deutsch "Lampenfieber"). Tatsächlich waren die fünf Musiker jedoch bereits seit Anfang der Sechziger zusammen und hatten es nach einigen Jahren als Band für Ronnie Hawkins zunächst mal (erfolglos) alleine versucht, bevor sie sich auf dessen Anfrage zu Bob Dylan gesellten und dadurch wenigstens wieder ein regelmäßiges Einkommen verbuchen konnten.

Nach ihren ersten Scheiben als The Band lief es auf fast allen Ebenen geradezu sensationell gut. Auf fast allen, denn zum Leidwesen des Gitarristen Robbie Robertson hatten sich zu diesem Zeitpunkt gleich drei seiner Mitmusiker ernsthaft schlechte Angewohnheiten zu eigen gemacht und schlugen ständig über die Stränge, was ihm nicht zuletzt wegen der bestehenden Freundschaft große Sorgen machte. Wie die Musiker intern mit dem Thema umgingen ist nirgends genau hinterlegt, aber möglicherweise lief die Konversation über die Songs ab. So schrieb Robertson für das neue Album die Nummer "The Shape I’m In" dem stark angeschlagenen Richard Manuel (der seinen Konsum bereits damals nicht mehr im Griff hatte) auf den Leib. Einer der Song-Klassiker dieser Scheibe, die von dem guten Richard (dem scheinbar sehr klar war, welche Botschaft ihm da durch die Flüstertüte überbracht wurde) dann gesanglich auch voller Inbrunst und Feeling gebracht wurde. »I got nine lives, I spent seven, how in the world do you get to heaven? Oooh, you don’t know the shape I’m in« heißt es da in einer Strophe und alleine diese wenigen Worte deuten schon an, auf welch dünnem Drahtseil der gute Richard wandelte.

Zum echten Song-Klassiker im Repertoire von The Band hat sich von dieser Scheibe neben "The Shape I’m In" zwar nur noch der Titeltrack gemausert, was der Qualität der restlichen Songs jedoch überhaupt nichts nimmt. Ständig im Live-Programm war beispielsweise auch das von Levon Helm (mit kleineren zusätzlichen Einlagen von Richard Manuel und Rick Danko) gesungene "W.S. Walcott Medicine Show", ein flotter Rocker über die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die Dörfer ziehenden Variete-Shows im Süden der USA. Thematisch blieb sich The Band also treu und auch musikalisch gab es im Vergleich mit den beiden ersten Platten nichts Neues, lediglich die Songs waren wieder bärenstark. Ein Grund, der die beiden Vorgänger zu Klassikern bzw. Inselplatten gemacht hat, war der ständig (auch während des selben Tracks) wechselnde Lead Gesang von Helm, Manuel und Danko, ein Stilmittel, das auf "Stage Fright" allerdings leider deutlich zurückgefahren wurde. Noch vorhanden, ja, allerdings nicht mehr so explosiv und mitreißend wie zuvor.

Richard Manuel glänzt auf dem herrlich geradeaus rockenden "Just Another Whistle Stop" sowie der so großartigen wie berührenden Ballade "Sleeping" (mit einem von Manuels selten geschriebenen Texten), während Rick Danko gesanglich seinen großen Auftritt bei dem Titelsong "Stage Fright" hat. Levon Helm verbucht gesanglich mit "Strawberry Wine" sowie "All La Glory" nochmal Alleingänge, während die Musiker auch auf dieser Platte gerne mal die Instrumente tauschten und der Keyboarder Garth Hudson auch wieder Saxofon-Soli beisteuerte.

Von den vielleicht nicht so bekannten Stücken überzeugen vor allem "Time To Kill" (Lead Vocals von Rick Danko und Richard Manuel) sowie das tolle "Daniel And The Sacred Harp" (Lead Vocals von Helm und Manuel), während das langsamere "All La Glory" sowie "The Rumor" qualitativ die einzigen Tracks sind, die vom restlichen Material etwas abfallen. Aber auch dazu mag es von zehn verschiedenen Fans durchaus zehn verschiedene Meinungen geben.

"Stage Fright" war und ist nach wie vor ein bärenstarkes Album, konnte und kann die ersten beiden Scheiben jedoch nicht mehr ganz erreichen. Dennoch hätte damals wie heute so manche Band wahrscheinlich ihren rechten Arm dafür gegeben, ein Werk von so hoher Qualität zu produzieren. Die Song-Reihenfolge wurde auf dieser neuen Ausgabe laut Robbie Robertson dahingehend abgeändert, wie sie ursprünglich geplant war. Ob dies nun einen großen Unterschied macht, mag jeder für sich selbst entscheiden. Für den Verfasser dieser Zeilen ändert sich dadurch weder die Wirkung des Gesamtwerks noch anderweitig sehr viel.

Zum fünfzigsten Geburtstag ist "Stage Fright" in unterschiedlichen Formaten (außer auf Vinyl noch mit reichlich Bonus-Material digital und auf CD) neu aufgelegt worden. Für mich aufgrund des Sounds ein herausragendes Erlebnis, da mir die Platte bisher nur auf einer (zugegebenermaße etwa 25 Jahre alten) fürchterlich schlechten CD-Augabe vorlag. Mit dieser LP hatte ich ein völlig neues Hörerlebnis und Sachen bei den Songs wahr genommen, die mir auf der CD noch nie aufgefallen sind. Von daher alle Daumen nach oben und der ganz dicke Tipp an alle bisher Unwissenden, die ersten drei Alben (denn besser wurde es nicht) von The Band für sich zu entdecken oder zumindest anzuchecken!


Line-up The Band:

Levon Helm (drums & percussion, guitars, lead vocals – A – #1,3,5, B – #3,4)
Robbie Robertston (guitars, autoharp)
Rick Danko (bass, double bass, fiddle, lead vocals – A – #1,4,5, B – #1)
Richard Manuel (piano, organ, drums, clavinet, lead vocals – A – #2,3,5, B – #1,2,5)
Garth Hudson (organ, electric piano, accordion, tenor saxophone)

With:
John Simon (baritone saxophone – A – #1)

Tracklist "Stage Fright":

Side 1:

  1. W.S. Walcott Medicine Show
  2. The Shape I’m In
  3. Daniel And The Sacred Harp
  4. Stage Fright
  5. The Rumor

Side 2:

  1. Time To Kill
  2. Just Another Whistle Stop
  3. All La Glory
  4. Strawberry Wine
  5. Sleeping

Gesamtspielzeit:19:06 (Side 1), 16:35 (Side 2), Erscheinungsjahr: 2021 (1970)

Über den Autor

Markus Kerren

Hauptgenres: Roots Rock, Classic Rock, Country Rock, Americana, Heavy Rock, Singer/Songwriter
Über mich
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Mail: markus(at)rocktimes.de

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