In den vergangenen Jahren hat das Thema Langsamkeit in vielen Bereichen Einzug gehalten. Die Entwicklung betrifft die Kunst genauso wie Teile des Managements in Unternehmen. In der Literatur gibt es sogar komplette Veranstaltungsreihen, die diesem Phänomen mit Lesungen folgen. Das Wort Entschleunigung machte ebenfalls die Runde und folgt dem gleichen Trend. Die Literatur war es, die das Thema neu besetzte. Ausgangspunkt war der Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" (1983). Der deutsche Schriftsteller Sten Nadolny hatte darin den englischen Kapitän und Polarforscher John Franklin zu seinem fiktiven Helden erkoren. Dessen sprichwörtliche Langsamkeit verschaffte ihm später zu großem Erfolg als Entdecker.
Warum sollte gerade die Musik keine Antwort auf die Herausforderungen unserer oft hektischen Zeit bereit halten? Wenn es die Langsamkeit als praktische Antwort darauf gibt, dann erleben wir gerade die kanadischen Brüder Joey und David Landreth mit ihrem aktuellen Gegenentwurf zum Motto der Olympischen Charta "Citius, Altius, Fortius" – "Schneller, Höher, Stärker". Ihr 'Ruheprojekt', um es einmal so zu nennen, stellen die Brüder als The Bros. Landreth konsequent über alle Titel ihres dritten Albums "Come Morning". Es ist fast schon beängstigend, welche enorme Ruhe sich auf "Drive All Night" nach den elektronischen Spielereien am Anfang breit macht. Umso faszinierender ist es, wie das Sechs-Minuten-Stück im weiteren Verlauf mehr und mehr Spannung aufbaut. Das passiert nicht einfach so, sondern auf filigranem und höchstem Niveau. Überraschend, aber sehr professionell.
Beim Opener "Stay" scheint die Zeit gänzlich still zu stehen. Oder anders ausgedrückt: Niemand kann die Protagonisten aus der Ruhe bringen. Dabei hat "Stay" das Zeug, sich mit seinem eingängigen Refrain schnell zu einem Ohrwurm zu entwickeln. Was auf das darauffolgende "What In The Word" zutrifft, beschreibt im Prinzip alle zehn Lieder des Albums. Joey und David Landreth sind dem Phänomen der Langsamkeit ständig auf der Spur, ohne es in dieser Form so ausgerufen zu haben! Die Brüder haben ihren Stil gefunden. Vielleicht ist es genau das, was sich jeder Hörer von Fall zu Fall zu eigen machen sollte: Hin und wieder im Alltag abschalten, zumindest aber einen Gang herunter schalten. Es sollte kein Fehler sein. Musikalisch erleben wir ein Singer/Songwriter-Album, während sich The Bros. Landreth von Haus aus eher dem Country und Folk Rock zugehörig fühlen. Ihre Heimat Kanada liefert vielleicht deshalb eine solche Ruhe, weil die Künstler ihrer Tätigkeit in einem sehr großen, weiten Land nachgehen. Dies ist zwar nur Spekulation, könnte aber ein guter Grund sein.
Die Brüder erzählen, dass das Album das eindringlichste, emotionalste und introspektivste Album ihrer Karriere sei. Das erklärt einiges: »Das übergreifende Thema ist Hoffnung«, sagt Joey Landreth. »Viele der Songs berühren schwierige Themen, zum Beispiel das Verarbeiten emotionaler Traumata und das Zurückfinden zu einer neuen Stärke. Es ist ein Mythos, dass man diesen Prozess jemals beendet. Dave und ich haben diese Reise gerade erst angetreten; deshalb ist diese Platte auch eine Wiedergeburt dessen, was wir mit ’87 erreichen wollten. Wir arbeiten uns durch den Schmerz, verarbeiten ihn, packen unser sprichwörtliches Gepäck aus und fangen an, vorwärts zu gehen. Beim letzten Mal sind wir nur auf dem Teppich gelaufen, unter den wir alles Mögliche gekehrt hatten«, geben die Akteure wichtige Auskünfte über das Entstehen ihres neuen Albums.
"Come Morning" verbindet melodiebetonte Songs mit atmosphärischen Synthesizern, Orgel und strukturierten Gitarren, so wie bei der Singleauskopplung "Drive All Night" bereits beschrieben. Es ist eine Abkehr von den früheren Alben der Brüder, die auf ihren starken Live-Auftritten basierten. Dieses Mal waren die Musiker besessen von Tönen und Soundparts, die sie aufnahmen, überdachten, um dann wieder neu aufzunehmen. Sie haben die Songs bis auf die Grundmauern abgerissen, um sie Stück für Stück wieder aufzubauen.
Joey Landreth tritt übrigens zum ersten Mal als Produzent in Erscheinung. An seiner Seite arbeitet Murray Pulver. Abgemischt und gemastert wurde das Album von Greg Koller, der schon für Bruce Springsteen, Katy Perry und viele andere Künstler an den Reglern saß.
Erhältlich ist "Come Morning" als CD und als digitales Format. Vinyl gibt es nach aktueller Information erst während der Touraktivitäten im September 2022. Hier brauchen die Fans noch ein wenig Geduld.
Line-up The Bros. Landreth:
Joey Landreth (guitars, vocals, synth, piano, wurlitzer, B3)
David Landreth (bass)
Aaron Sterling (drums)
Paul Yee (percussion)
Tracklist "Come Morning":
- Stay
- What in the World
- Drive All Night
- Shame
- You Don’t Know Me
- After the Rain
- Don’t Feel Like Crying
- Corduroy
- Come Morning
- Back To Thee
Gesamtspielzeit: 39:24, Erscheinungsjahr: 2022
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