Neun Alben hat die gerade tourende Electric Family im Rücken, wobei das letzte aus 2017, Terra Circus, anscheinend viele Liebhaber gefunden hat. Neuen, jüngeren Fans, denen der zehnjährige Abstand zum Vorgänger wohl zu groß ist, will man nun mit dem zehnten Bandoutput "The Long March … From Bremen To Betancuria" eine Art Werkschau in die Player legen, um auch ältere Sachen der Band um Tom 'The Perc' Redecker vorzustellen.
Daher ist die vorliegende Compilation weniger als übliches Best-of-Album zu verstehen, sondern mehr als ein Dokument, welches die enorme stilistische Bandbreite dieser Musik-Familie aufzeigt. Die Familie, das ist ein relativ fester Stamm mit immer wieder wechselnden Musiken aus anderen – seelenverwandten – Formationen. Prominentestes Familienmitglied auf vorliegendem Album ist sicherlich Ulla Meinecke im Track "Solid Structure" aus der 2012er Platte Ice Cream Phoenix Resurrection.
Andere Musiker kommen aus musikgeschichtsträchtigen Bands wie Grobschnitt, Amon Düül II, Agitation Free, Thirsty Moon, Lokomotive Kreuzberg, den Ärzten und und und. Musikalisch orientiert sich der Bandsound ganz grob gesagt im Umfeld des Psychedelic Rock, streift aber mal mehr und mal weniger den Krautrock, Progressive Rock, Electronic und auch ’normalen' Rock aller Spielarten. Das macht die Nummern der Electric Family niemals langweilig, niemals vorhersehbar und immer spannend.
Aber wem sag ich das … RockTimes-Lesern ist die Electric Family wohlbekannt und so finden sich natürlich viele bekannte, weil bereits rezensierte Songs auf "The Long March … From Bremen To Betancuria". Der überwiegende Teil der der ausgesuchten Stücke stammt aus den ersten vier Studioalben "Welcome To The Family Show" (1997), "Tender" (1999), Ice Cream Phoenix (2003) und Royal Hunt (2006). Für mich neu sind die beiden Stücke "In The Web" sowie die Suite "Betancuria". Beide Nummern stammen vom Album "Tender" aus dem Jahr 1999. "In The Web" zeigt eine weitere Seite der Electric Family. Durchaus unter dem gewohnt psychedelischen Mantel, zelebriert die Band hier eine Art Folk Rock bzw. Americana. Das Stück beschert mir seit langem mal wieder eine Verbalverstopfung, will heißen, ich kriege den Mund nicht mehr zu, weil da erstens der Peter Apel einen Gitarrensound zum Niederknien durch die Amps jagt, weil Willi Pape es Americana-untypisch schafft, mit dem Saxofon eine Gänsehau-Komponente einzubauen und weil drittens durchaus ein Mr. Zimmermann als Komponist im Booklet stehen könnten. Da steht er aber nicht, weil auch hier der Perc zugeschlagen hat. Und wie!
"Betancuria" ist ein Lehrstück in Sachen progressiver Komposition. Apel spielt auch hier eine Gitarre, die süchtig macht. Süchtig macht auch die Stimme Evelyn Gramels. Das alles spielt sich ab in einem psychedelischen Orbit und dort treffen sphärische Ritte auf hypnotisierend wirkende, elektronische Rhythmen und zeigen auf beeindruckende Weise die Klasse dieser Formation.
Ich denke, die eben erwähnte Klasse liegt unbedingt im Line-up. Irgendwie ist die Family – alleine schon durch Toms Stimmfärbung – immer zu erkennen. Aber durch die Vielzahl der Musiker, die da immer wieder mal mitmachen, ergibt sich nie eine festgefahrene Konstante. Alle bringen ihre Duftmarke und ihr Können mit ins Spiel und so begeistert hier eben mal eine Evelyn Gramel zum Saxofonspiel und dort eine Ulla Meinecke zur Mundharmonika und, und, und …
Den Abschluss dieser vorzüglichen Kompilation machen die tranceartige The Perc-Nummer The Inca Cosma Fudge sowie "Operation Stardust [Cockpit Edit]", also nicht die Version vom Album "Royal Hunt" aus dem Jahr 2007, sondern vom Sampler 45 Years Perry Rhodan / Operation Stardust aus dem Jahr davor. Auch diese »Interstellar Song Collection« kann ich euch nur wärmstens ans Herz legen.
"The Long March … From Bremen To Betancuria" jedenfalls ist eine dieser Must-have-Scheiben. Sie zeigt einen Überblick aus den ersten vier Alben der Formation(en) und – wichtig!- will nicht als Best-of verstanden werden. Vielmehr liegt, wie bereits erwähnt, der Focus eher darauf, die Vielfalt der Musik aufzuzeigen. Und das bedeutet, dass Songs, die bei den Fans beliebt sind, die erfolgreich sind, nicht unbedingt enthalten sein müssen. Und das lässt den Schluss zu, dass nach diesem Appetithappen der Hunger nach den Originalalben wächst. Ich jedenfalls werde demnächst die "Tender" in Angriff nehmen. Diese Electric Family macht einfach süchtig. Und wie das mit Suchtmitteln so ist, man ist immer auf der Suche nach Nachschub und da ist es erfreulich zu hören, dass die Arbeiten für ein neues Studioalbum bereits begonnen haben sollen.
Ach ja, Betancuria ist ein Ort auf Fuerteventura.
Line-up The Electric Family:
Rolf Kirschbaum (electric guitar – #1,4,7, drum programming – #5,7)
Ben Schadow (bass guitar – #1)
Burghard Rausch (drums – #1,4,10)
Volker Kahrs (keyboards – #1,2,4,5,8,10, organ & strings – #3)
Tom 'The Perc' Redecker (vocals, acoustic guitar – #1-5,9,10, keyboards – #1,7,9, bass guitar – #4,8, electric guitar – #6,8)
Peter Apel (eletric guitar – #2,5,8,10, lead guitar – #3)
Harry Payuta (bass guitar – #2,3,5,7)
Torsten Glase (drums – #2,3,5,6, percussion – #3,5)
Wili Pape (saxophone – #2)
Evelyn Gramel (backup vocals – #2, vocals – #5)
Jochen Schoberth (electric guitar – #3)
The Cookies (backup vocals – #4)
Ulla Meinecke (vocals – #6)
Tex Morton (electric guitar – #6)
Rainer Kirchmann (keyboards & mouth harp – #6)
Ingo Yorck (bass guitar – #6)
The Voodoo (percussion – #6)
Dieter Serfass (percussion – #7)
Abdelmajid (percussion – #7)
Johannes & Kilian Redecker (outro singing – #7)
Hanno Jannssen (drums – #8)
Theo von Thyssen (backup vocals – #8, bass guitar – #10)
Matzo Konrad (bass guitar – #9)
Tracklist "The Long March … From Bremen To Betancuria":
- Landmark Visions (11:01)
- In The Web (4:21)
- Space Caravan (10:34)
a. Picture Dreams
b. The Treasure Dance
c. The River And The Gold - Souls & Coins (6:50)
- Betancuria (12:21)
a. The Conquest
b. MorroDe La Cruz
c. Loveflow - Solid Structure (8:20)
- Ariel’s Hyperdive (7:28)
a. Amazing Colored Brains
b. Family Tryp - Close To The Dustheap (4:02)
- The Inca Cosma Fudge (8:18)
- Operation Stardust [Cockpit Edit] (4:43)
Gesamtspielzeit: 78:02, Erscheinungsjahr: 2018
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