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The Far Cry / If Only… – CD-Review

The Far Cry / If Only… – CD-Review

"If Only…" ist ein Debütalbum. Angesichts der Tatsache, dass Robert Hutchinson (Schlagzeug) und Jeff Brewer (Bass, Gesang) sich bereits im Jahre 1976 erstmals musikalisch begegneten, darf man das durchaus hervorheben. Die Musiker sind allesamt gestandene Profis, doch das Line-up gestaltete sich schwierig, nachdem Hutch und Jeff sich in 2013 unvermittelt wieder über den Weg liefen und final beschlossen, ihren gemeinsamen, großen Traum von eigener progressiver Musik wiederzubeleben. So entstand die Musik zunächst als rhythmischer Torso, zu dem sich später die Keyboards und Gitarren gesellten – eine Kompositionsform, die im Prog durchaus üblich ist. Chris Dabbo (Tasten) und Bryan Collin (Gitarre) vervollständigten letztlich die Band – The Far Cry aus Connecticut/USA war geboren.

Die Musik umfasst ein breites Spektrum vom klassischen Rock und Prog der Siebziger, findet immer wieder Anklänge aus dem Neo-Prog, mal symphonisch, mal fast im Bereich des Melodik Rock. Auch zeitgenössische Kollegen scheinen hier und da ihre Einflüsse geltend zu machen, dazu später mehr. "If Only…" ist kein Konzeptalbum, hat aber einen roten Faden. »In den Texten  geht es um menschliche Emotionen und Perspektiven, die den realen Gegebenheiten entsprechen«. So ähnlich erklärt es das Info-Material. Das Album besteht aus drei epischen Song-Monstern jenseits von elf  Minuten Laufzeit, zwei kurzen Einlagen und drei Stücke zwischen sechs und acht Minuten. Diese Struktur verbunden mit der komplex lebhaften Gesamtkomposition ergibt ein spannendes Abenteuer, auf das sich Prog-affine Hörer gerne einlassen sollten.

Düstere Riffs und unheilschwangere Tastenklänge wie aus Yes' "Relayer"-Tagen bilden mit einer gradlinigeren Hookline zwei ineinander verschachtelte Hauptphrasen, die in verfremdeten Gesang münden. So beginnt "The Mask Of Deception"; die Struktur erinnert ein wenig an die musikalische Gestaltung der Neal Morse Band und prägt damit einen recht aktuellen Akzent. Das dominierende repetitive Element führt jedoch auf andere Spuren – oder auch nicht? Spock’s Beard war ja auch einmal die Band von Neal Morse. Mit zunehmenden Harmonien erwächst auch mehr Melodik, man erhebt sich ein wenig  aus dem düsteren Beginn. Über die Bedeutung des Songs, übersetzt "Die Maske der Täuschung", darf man ebenfalls einen Moment reflektieren. Es geht um die Gefahr, in einer futuristischen Gesellschaft durch staatliche Kontrolle und undurchsichtige Politik immer mehr persönliche Freiheiten zu verlieren und in ein Zeitalter der Dunkelheit zu geraten. Jeff Brewer hat in den amerikanischen Medien ausdrücklich betont, dass der Song keinesfalls als Anti-Impf-Kampagne zu verstehen sei, deutet aber auch an, dass diese Vision durchaus durch die aktuelle amerikanische Politik in der Corona-Pandemie beeinflusst sein könnte. Allein damit würde er sich hierzulande sicherlich recht unbeliebt machen in den Chef-Etagen der Macht. Jenseits des Teichs vermutlich auch. Aber letzlich liegt es an jedem Zuhörer selbst, den Text entsprechend einzuordnen.

Im Mittelteil nehmen beschwingtere, aber immer noch in zahllosen Wiederholungen kreiselnde Gitarrenlinien die Szenerie und lassen ein wenig Verwandtschaft zu verschiedenen schwedischen Prog-Größen erkennen. Darüber erhebt sich zunächst ein wild improvisierendes Keyboard, bevor Bryan zwei wirklich großartige Soli spielt. Zunächst aggressiv und voller Power, dann zurückgenommen und in strahlender Eleganz, bevor die krachenden 'Yes-Riffs' zu uns zurückkehren. Ganz nebenbei übernimmt Jeffs Gesang in dieser Nummer ein prägendes Momentum.

Ein heftiger Sprung zur nächsten Nummer "Programophone"! Es geht um die Einflussnahme von Streaming-Organisationen und Medien auf die Musik, die Robert Hutchinson in einer Art wütender Litanei über einem leicht gerapten Rhythmus herunter betet. Der Song beginnt mit monotonen Keyboard-Hooks, die von einem quirligen Bass befeuert werden. Die proggigen Einlagen bieten zwischenzeitlich mehr Melodie orientierte Passagen der Marke Arena. Der Bass bleibt aber irgendwie im Mittelpunkt und lenkt über in ein geiles, gedehntes Gitarrensolo, welches die eintönigen Tasten-Hooks sehr schön kontrastiert. Eine letzte Sprechpassage leitet die Schluss-Sequenz ein, deren Riffs nun wieder stilggerecht den Saiten gehören.

Was mir sehr gefällt, sind die kleinen Zwischenspiele, bei so vielen Bands als Interlude 1,2,3 bezeichnet. Hier heißen sie Winterlude, ein schönes Wortspiel und das klingt doch gleich so viel romantischer – eben wie die wunderschön dahintreibende Musik dieser beiden kurzen Stücke. Die erste Nummer ("Winterlude") wird von einer sanften Gitarre geprägt, fast ein wenig wie bei Steve Hackett und Genesis, während "Winterlude Waning" eine traumhaft schöne Piano-Reflektion über sanftem Keyboard-Teppich darstellt. Kristallklar wie eine Nacht im Winter. Du stehst vor dem Haus, blickst den Hang hinab in die Ebene und das Licht der Sterne reflektiert in gefrorenem Schnee. Drinnen flackert der Kamin, doch die Hand und den Bauch wärmt der Glühwein vom feinen Zweigelt. Ein Moment, in dem die Welt still steht. Einfach nur schön. Melodik pur.

"Simple Pleasures" bleibt ein Stück weit im Wohlfühl-Modus, hier befinden wir uns irgendwo zwischen Melodic und AOR. Puristischen Prog-Fans könnten diese entspannt treibenden Hooklines vielleicht ein wenig zu glatt erscheinen? Ein vollkommen losgelöstes Piano-Solo durchbricht das beschwingte Treiben, sorgt aber ebenfalls für eine romantische Grundstimmung, die nun wunderbar von den übrigen Instrumenten nach und nach aufgenommen wird. Ganz sanft und mit viel Feingefühl steigert sich der Song in eine Plattform, aus der sich mehrere beeindruckende Soli entwickeln dürfen. Chris Dabbo zitiert dabei auf den Tasten diverse Blasinstrumente und Bryan legt den Deckel drauf. Kurz, aber prägnant. Die letzte Strophe zeigt noch einmal, wie eingängig die Band hier agiert. Und Bryan darf gleich noch einmal. Schöne Nummer voller Harmonie.

Kann es sein, dass man im Titelsong "If Only" ganz bewusst die deutlichsten Reminiszenzen an Yes abbildet, die Zeit der eigenen Jugend? Die Background-Vocals könnten aus deren Siebziger Epoche stammen und die mächtigen, dominierenden Keyboard-Wände tun ihr übriges. Dieses Stück stellt im Grunde eine melancholische Betrachtung der eigenen Jugend dar, den Wunsch, wieder jung zu sein und die Welt so zu erleben wie damals, als noch alles möglich schien.

Nach gut vier Minuten treibenden Progs taucht die Musik plötzlich ab in eine geheimnisvolle Sphäre schwelender Klänge. Stoisch schwebend und voller glänzender Partikel, bis eine simple Rhythmik, am Anfang nur aus einem zweitönigen Akkord bestehend und die das Ticken einer Uhr darstellt, ganz langsam an Fahrt aufnimmt. Hier gelangen wir in modernen, rhythmisch fesselnden Progressive Rock, die Seventies scheinen plötzlich weit hinter uns. Es entwickelt sich eine schöne Steigerung, die klar im Neo-Prog der Neunziger verwurzelt ist. IQ aus Southampton passen dazu. Das Keyboard legt mit der Gitarre eine mitreißende Schlacht hin, hier geht mächtig die Post ab. Dream Theater kommen mir in den Sinn, vielleicht auch Spock’s Beard. Ein letztes Break setzt die Stimmung noch einmal auf null. Glockenklänge und dann ein letztes, neues Thema, das bis zum Höhepunkt gesteigert wird. Jetzt bin ich schon wieder bei Neal Morse. Ein fanfarenartiges Finale setzt eine letzte Reminiszenz an Emerson Lake & Palmer. That’s it.

Und zum Schluss der Absacker. Ganz toll, dass die Band nach der emotionalen Nummer des Titelsongs völlig das Tempo heraus nimmt und mit "Dream Dancer" eine wundervoll besinnliche  Instrumentalnummer bringt. Elegante Soundscapes bewegen sich sanft wogend in sich selbst, völlig unaufgeregt wird darüber soliert, ganz nah beim Song und niemals weit ausholend, fast ein bisschen so wie Pat Metheny in seinen ruhigsten und zugänglichsten Stücken. Diese Nummer wirkt wie ein Friedensangebot, wie ein Trostpflaster. Als wolle man uns sagen, dass am Ende alles gut wird. Meditativ und voller Hoffnung.

"If Only…" ist ein bemerkenswertes Debüt, geprägt von Abwechslung und stilistischer Feinheit, gespielt von ausgezeichneten Protagonisten, allerdings sicherlich nur ein Tipp für Freunde des gemäßigten Progressive Rock. Erfreulicherweise hat die Band angekündigt, sich in Kürze mit neuem Material auseinander zu setzen. Darauf darf man getrost gespannt sein, denn die Musik macht Appetit auf mehr.


The Far Cry Line-up:

Chris Dabbo (piano, keyboards, vocals)
Robert Hutchinson (drums, percussion, bells, spoken words)
Jeff Brewer (vocals, bass, guitar)
Bryan Collin (guitar)

Tracklist "If Only…":

  1. The Mask Of Deception
  2. Programophone
  3. Winterlude
  4. Simple Pleasures
  5. The Missing Floor
  6. Winterlude Waning
  7. If Only
  8. Dream Dancer

Gesamtspielzeit: 66:47, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Paul Pasternak

Hauptgenres: Psychedelic Rock, Stoner Rock, Blues Rock, Jam Rock, Progressive Rock, Classic Rock, Fusion

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