The Neal Morse Band / The Great Adventure Live In Brno 2019 – DCD/Blu-ray-Review

Mit dieser umfangreichen Liveaufnahme bringt die Neal Morse Band ihren Zyklus rund um das große alte Buch "The Pilgrims Progress" von John Bunyan weltweit und zur großen Freude der Prog-Gemeinde zur Vollendung und schenkt uns in diesen Tagen die Live-Version von "The Great Adventure". Ich hatte das einmalige Glück, beide legendären Studio-Doppelalben hier besprechen zu dürfen und ich habe jeweils eine Show der daraus resultierenden Touren gesehen. Ich glaube nicht, dass mich Musik jemals mehr berührt hat als diese ergreifende Geschichte des Pilgers auf der Suche nach seiner Bestimmung in The Similitude Of A Dream, und eben die Sichtweise des enttäuschten, allein gelassenen Sohnes, die uns in The Great Adventure erzählt wird.

Nun liegen endlich auch beide Touren als Live-Mitschnitt inklusive bewegten Bildern vor, der Kreis ist geschlossen, das Werk vollbracht.
Neal Morse, Mighty Mike Portnoy, Randy Georg, Bill Hubauer und Eric Gillette für ihre einzigartige Klasse anzupreisen erscheint mir zu billig, aus meiner Sicht handelt es sich um die Supergroup des progressiven Rock schlechthin. Längst haben sie in der modernen Rockgeschichte einen Ehrenplatz eingenommen.

Was also erwartet den Fan auf diesem satt gefüllten Format? Auf zwei CDs gibt es das komplette Konzert inklusive der Zugabe. Das bildliche Äquivalent dazu finden wir auf Blu-ray 1. Auf dem zweiten Bildträger finden wir jeweils eine Dokumentation der Band, einmal über die Tour in den USA und einmal in Europa. Dazu schließen sich noch vier Videoauskopplungen aus dem Studioalbum an. Wenn man bedenkt, dass das gesamte Set gerade mal 20 Euronen kostet, stellt sich die Frage nach dem Erwerb erst gar nicht – es ist ein Pflichtkauf, für Fans sowieso.

Da ich davon ausgehe, dass die meisten Interessenten an dieser Platte mit der Musik des Studioalbums vertraut sind, möchte ich es bei einigen Besonderheiten der Live-Version belassen. Zunächst einmal fällt auf, dass "The Great Adventure Live At Brno" in der puren klassischen Bandversion mitgeschnitten wurde. Der Vorgänger, "The Similitude Of A Dream", war seinerzeit im Verlauf des Morsefestes 2017 mit allerlei opulenten Beigaben versehen worden, inklusive Kammerorchester und Tanzeinlagen.
"The Great Adventure" ist aber schon in seiner Studioversion deutlich härter konzipiert, was ja auch mit der Persönlichkeit des jungen Protagonisten der Geschichte zu tun hat und so darf ich versprechen, dass genau dieser Duktus in der Live-Aufnahme noch einmal verstärkt wird.

Wer einen Teufelsdrummer wie Mike Portnoy an Bord weiß und mit Eric Gillette einen unglaublich talentierten Saitenmagier an die Front stellen kann, der mit seiner punktgenauen, aber unfassbar schnellen Präzision den meisten Metal-Gitarristen den Arsch abspielen kann, der kann es beliebig krachen lassen. Und das tun sie, die Jungs. Durch diese gesunde Aggressivität erscheinen dann die vielen sensiblen leisen Parts und die wirklich hinreißend einfühlsamen Gesänge noch viel intensiver. Das gilt übrigens nicht nur für den Chef. Neals Emotionalität ist über alle Zweifel erhaben, doch auch Bill Hubauer und vor allem Eric Gillette haben wie schon auf dem Vorgängeralbum absolut hinreißende Gesangsparts. Von dieser Dynamik lebt natürlich das ganze Konzert und das Publikum geht erkennbar begeistert mit, wobei ich mich zu erinnern glaube, dass die Stimmung in Köln sogar noch euphorischer war. Schon damals hatte ich festgestellt, dass ich wohl noch nie eine so liebevolle Beziehung zwischen Bühne und Publikum erleben konnte. Die Menschen verstehen, dass die Neal Morse Band neben fantastischer Musik und großartigem Können eben noch ein bisschen mehr gibt.

Wenn der Meister auf dem Höhepunkt der Geschichte weinend vor seinem Keyboard kauert, dann versteht ein jeder, dass hier nicht nur aufrichtige Musik gemacht wird – hier stehen wir vor Künstlern, die ihr Innerstes preis geben, die uns an ihrem Leben Anteil haben lassen wollen. Zum Glück wird das belohnt.

Doch es wird auch agiert, Neal singt nicht nur, er spielt auch den Sohn und andere obskure Figuren und Mike ist wie immer für alle möglichen Späße zu haben. Ganz anders Randy, Bill und Eric, die stoisch und mit viel Understatement aus dem Hintergrund wirken, ganz auf die Musik konzentriert. Erstaunlich auch, welch geile Soli Neal seiner Fender entlockt. Üblicherweise konzentriert er sich ja weit mehr auf das Keyboard. Ich habe ihn aber bei Transatlantic und Spock’s Beard auch schon mal hinter der Schießbude gesehen, da tauschte man schon mal die Rollen durch. Wohl dem, der es kann. Im Studio haben sie den Rollentausch übrigens ausprobiert (Dokumentation USA auf der zweiten Blu-ray), den Plan für das Livekonzert aber letztlich wieder verworfen.

Die Atmosphäre der Location in Brünn wirkt ähnlich wie der Sherperd’s Bush in London, wo Transatlantik ihr Epos The Whirlwind aufgezeichnet haben – selbstverständlich auch mit den Herren Morse und Portnoy. Der Sound in der Halle kommt toll rüber. Die Kamerafahrten sind ruhig und nicht zu abrupt, fast eher ein bisschen Old School, was mir sehr recht ist. Die Bildgestaltung erfolgt stark angelegt an die Regie während "Similitude". Immer wieder werden die teilweise dramatischen und wirklich wunderschönen Hintergrundbilder und Screens in das Geschehen auf der Bühne überblendet. Gelegentlich gibt es Formen und Strukturen, die ebenfalls hinter das Livebild gelegt werden und dem ganzen einen durchaus künstlerischen Eindruck verschaffen. Irgendjemand hat bei einem Online-Händler gemeckert, die Aufnahme auf der Blu-ray sei nicht in HD erstellt worden. Interessiert mich nicht, hier geht es um ein Konzert und nicht eine cineastische Erfahrung.

Die Zugabe wird schlicht "The Great Medley" genannt und beinhaltet Sequenzen bekannter Neal Morse-Songs auch aus früheren Epochen, zum Beispiel den Schlusspart aus "The Call". For allem aber wird am Ende, wie schon in Köln noch einmal das Finale von "Similitude" gebracht, das einzigartige und alles sprengende "Broken Sky/Long Day" (Reprise) und Eric darf zum großen Finale noch einmal aus tiefster Inbrunst singen: »The son’s coming home!« Und dann endet das große Konzert über das große Abenteuer ganz leise und still, wie es begonnen hat, wenn Neal ergriffen flüstert: »Let the great adventure now begin.« Denn "Similitude" endet, wie "The Great Adventure" anfängt, aber das wisst Ihr ja selbst.

Zur Information hier die vollständige Liste der Songs, die im Medley angespielt werden: "The Land Of Beginning Again", "One Mind", "The Temple Of The Living God", "The Conflict", "Leviathan", "It’s For You", "Momentum", "The Call", "Broken Sky/Long Day (Reprise)".

Es ist mir wieder nicht gelungen, das Konzert mit trockenen Augen durchzustehen, und das wird  vermutlich auch niemals möglich sein. Diese Musik in ihrer komplexen Gesamtheit, die dramaturgische Wucht und die überwältigende Spielkunst auf der einen Seite, die alles überragende emotionale Art, wie Neal und seine Freunde das Album zelebrieren, das alles ist einzigartig in der Rockmusik, dieser Musik kann man schnell und leicht verfallen.

Und in den Tagen, wo ich aus Sicherheitsgründen meine Mutter selbst zum Geburtstag nicht besuchen darf, da erinnere ich mich daran, dass Neal Morse es war, der ihr zum Achtzigsten einst einen Gruß geschickt hat, damals, als wir das Interview machten. Dieser wunderbare Musiker und Mensch bleibt mit meinem Dasein verwoben, so lange ich lebe. Ich hab’s schon mal geschrieben:

God bless you, Neal Morse.

Line-up The Neal Morse Band:

Neal Morse (vocals, guitar, keyboard, wistle)
Mike Portnoy (drums, vocals)
Randy George (bass, vocals)
Bill Hubauer (keyboard, vocals)
Eric Gillette (guitar, vocals)

Tracklist "The Great Adventure Live At Brno – 2019":

Gesamtspielzeit: 60:11 (CD 1), 75:04 (CD 1), 140:00 (Blu-ray 1), 140:00 (Blu-ray 2),

Erscheinungsjahr: 2020