Nachdem im Januar dieses Jahres das neue Album Les Variations Sonnenuhr der beiden Musiker Tom Redecker und Emilio Winschetti, die man als The Perc Meets The Hidden Gentleman kennt, zur Rezension vorlag, dauerte es nicht lange, bis wir uns zum Gespräch verabredeten, da diese Platte doch so ganz anders war, als das, was ich bis Dato von dem sehr geschätzten Duo kannte. Noch interessanter war die Tatsache, dass nach anfänglicher Skepsis ob des Stils von "Les Variations Sonnenuhr" die Scheibe immer mehr an Fahrt aufnahm und nun ihren guten Platz in meinem Plattenregal gefunden hat.
RockTimes:Tom, Toleranz ist ja so eine Sache: Man kann gewisse Dinge bis zu einem bestimmten Punkt akzeptieren, billigen oder dulden, ohne einverstanden zu sein bzw. sie zu mögen. Auf die Musik bezogen sind das bei mir u.a. Rap, House oder auch Techno. Wenn das jemandem gefällt, ist das okay, solange ich ausweichen kann.
Nun kam mit "Les Variations Sonnenuhr" das neuen Album von dir und Emilio und ja, da waren dann auf der einen Seite so Sachen wie Techno, Dub und Loveparade zu lesen, auf der anderen Seite stand da aber The Perc Meets The Hidden Gentleman.
Erzähl mal, wie und warum es zu diesem Mix gekommen ist.
Tom: Emilio und ich haben uns vor ein paar Jahren mal wieder im Studio von Sven Röhrig alias 3phase in Berlin getroffen, einfach nur um etwas zusammen zu machen. Es lag keine Veröffentlichung vor, wir hatten einfach nur zwei Tage Studiozeit gebucht und haben rumgebastelt. Dabei entstanden die beiden Songs "Sonnenuhr" und "Heurtebise". Letztes Jahr lese ich, dass Depeche Mode von ihrem neuen Album den Song "Ghosts Again" von verschiedenen Kollegen remixen ließen und als Remix Album veröffentlicht hatten.
Da fielen mir unsere beiden Songs wieder ein und ich rief Emilio an. Er fand die Idee ebenfalls sehr gut, allerdings waren nur von "Sonnenuhr" noch alle Spuren verfügbar, bei "Heurtebise" hatten wir lediglich einen Rough Mx zur Verfügung. Wir haben dann einige Kolleg/innen, die sich bereits als Remixer/innen ausgezeichnet hatten, angesprochen und schnell waren Beate Bartel (Liasons Dangereuses), Carlos Peron (Yello), Marlon Klein und Dubvisonist Felix Wolter dabei. Dazu kamen aus Los Angeles noch Mathias Schneeberger, mit dem wir bereits auf unserem ersten Album "Two Foozles At The Tea Party" zusammen gearbeitet haben und mein Sohn Kilian aka DJ Dwip!
Wir sind nach wie vor begeistert von der Vielfalt der entstandenen Remixe, keiner ähnelt dem anderen und das entspricht ja unserer Prämisse, uns nie wiederholen zu wollen. Nicht umsonst hört sich auch bei uns jedes Album anders an als der Vorgänger. Jeder, der also gehofft hat, dass wir mit "Les Variations Sonnenuhr" nach 30 Jahren an unser letztes Studioalbum "Ages" von 1993 anknüpfen würden, hat sicherlich erst einmal etwas schlucken müssen. Aber wir wissen von den zahlreichen Stimmen zu "Sonnenuhr", dass die Leute das Album prima aufnehmen. Das freut uns natürlich sehr!
RockTimes: "Ages" kenne ich leider nicht, aber da Minne Graw und Volker Kahrs (Grobschnitt) mit an Bord waren kann ich mir gut vorstellen, dass das Album – wie die Sachen von euch, die ich kenne – auch unter dem weiten Mantel des Rock zu Hause ist. Ob nun Psychedelic, Kraut oder eben ’normaler' Rock. Die Werke von euch sind sicher nie stilistisch gleich, aber eben immer im Rock verwurzelt. Die Sonnenuhr-Variationen sind daher 'anders' anders. Habt ihr die beiden Aufnahmen daher vielleicht erst mal 'liegen lassen', weil sie 'anders' werden sollten?
Tom: "Ages" war ja unser bombastischstes Album. Wir hatten nach dem Erfolg von "Lavender" einen ordentlichen Etat für die Studioaufnahmen eben von "Ages" erhalten und das ordentlich ausgenutzt. Allein das LP-Cover im Prägedruck hat damals ein Vermögen gekostet. Aber zurück zu "Sonnenuhr". Die Aufnahmen der beiden Titel waren ein Anfang. Uns war selbst nicht klar, was damit passieren sollte. Eine Single war mal im Gespräch, dann wiederum der Einstieg in ein neues Album. Letztendlich gerieten die Aufnahmen auf Grund unseres aufreibenden Berufslebens in der Musik- bzw. Film- und Fernsehbranche etwas in Vergessenheit. Dieses Depeche Mode-Remixalbum brachte sie uns wieder in Erinnerung.
RockTimes: Ja, ich habe natürlich gegoogelt und es bei Wikipedia als das »aufwendigste Album« von euch gefunden. Außerdem gibt es in dem Wiki-Artikel ein Zitat von ME/Sounds, das vom »eigenwilligsten Duo Deutschlands« spricht. Bevor ich auf des ME/Sounds-Zitat eingehe, siehst du euch auch so, oder so ähnlich?
Tom: Das war glaube ich der TIP in Berlin, der dieses Zitat in die Welt gesetzt hat, mit unserem Debütalbum waren wir dort Platte des Monats. Überhaupt waren wir ziemliche Medienlieblinge, wir waren halt schon etwas anders als die Kollegen und so etwas wissen Kritiker ja in der Regel zu schätzen.
RockTimes: Apropos Kritiker … was ich so im Netz zu "Les Variations Sonnenuhr" gefunden habe, ist eigentlich ziemlich deckungsgleich mit meiner Meinung: irgendwie Verwunderung, oder zumindest Erstaunen über die stilistische Richtung der Mixe, aber dann das Resümee, dass es trotzdem gut kommt und man bei dir und Emilio auch mit '180 Grad-Wendungen' rechnen kann und soll. Gab es auch Verrisse des Albums, oder kam es eher gut an?
Tom: Nein, bisher dürfen wir uns über eine überwiegend positive Reaktion auf das Album freuen. Ich muss immer wieder betonen, dass es sich bei diesem Album um ein Remixalbum handelt und das Lob gebührt natürlich den Remixern, die für diese Abwechslung und musikalische Farbigkeit gesorgt haben!
RockTimes: Das ist wie beim Kochen: Der Mixer kann nur was Gutes mixen, wenn die Zutaten passen. Gab es einen Grund, wieso ihr das Mixen keinem Rock-Mixer sondern Dub und Techno-Mixern überlassen habt? Oder anders gefragt: War euch klar, dass diese beiden Stücke in dieses doch etwas andere musikalische Gewand passen?
Tom: Marlon Klein und Mathias Schneeberger entstammen ja durchaus dem Rock-Lager, also haben wir schon genreübergreifende Kolleginnen und Kollegen am Start. Wir hatten eigentlich überhaupt keine Vorstellung, wie sich die Remixe anhören würden. Man gibt die Tonspuren aus dem Haus und bekommt ein völlig neues Resultat zurück. Spannend!
RockTimes; Und es hat ja prima geklappt und auch ich habe mich da reingefunden, obwohl ich anfangs Zweifel hatte. Da ich ehrlich bleiben will und muss, würde ich für die einsame Insel doch eher den 'The Lavender Cantos' einpacken.
Aber warum hat es denn eigentlich 30 Jahre gedauert, bis es einen neuen Output von euch gegeben hat?
Tom: Wir hatten beide viel um die Ohren. Meine Companies Shack Media und Sireena Records liefen teilweise auf Hochtouren, ich habe immerhin rund 400 Produktionen in der Zeit gemacht. Emilio war ähnlich viel beschäftigt. Außerdem waren bei mir Alben mit The Electric Family, Taras Bulba und The Perc Solo am Start. Es fand sich einfach keine Zeit. TPMTHG ist uns auch zu wichtig, als dass man da irgendwelche Schnellschüsse abfeuert. Es gab immer mal wieder gutbezahlte Gig-Angebote, selbst die haben wir nicht hinbekommen. Erst jetzt hat es geklappt. Aber gut Ding braucht ja nun mal Zeit.
RockTimes: Ich verstehe, ein guter Wein, ein guter Braten, ein guter Gemüseeintopf … alles braucht Zeit, um die bestmögliche Qualität zu erreichen. Und RockTimes ist ja auch froh, dass Sireena läuft, denn das bringt uns starke Scheiben zum Besprechen. Eigentlich wollte ich nun deinen musikalischen Bruder, den Hidden Gentleman Emilio ins Gespräch bringen und ihn nach den Texten der Sonnenuhr befragen, aber erst noch etwas, das mich schon länger interessiert: Sireena – gibt es eine Bedeutung hinter diesem Namen?
Tom: Tatsächlich ist unser Song "Sireena" vom Album "This Maid Of Delphi" der Namensgeber für das Label Sireena Records. Als Lothar Gärtner und ich 2000 das Label ins Leben gerufen haben, stand der Namen für uns fest. Er klingt phonetisch sehr gut und er klingt nach Norden.
RockTimes: Eine sehr gute Wahl und in der Tat phonetisch auf jeden Fall besser, als zum Beispiel Aquavit. Spaß beiseite, gab es einen besonderen Grund ein eigenes Label zu gründen? So etwas macht man ja nicht unbedingt mal eben so im Vorbeigehen und habt ihr beide gedacht, dass Sireena so ein Erfolg wird?
Tom: Wir hatten schon länger darüber nachgedacht, ein Label speziell für Reissues zu gründen, aber erst 2000 war es dann soweit. Lothar rief mich an. Er hatte Strange Ways Records verkauft, sich ein nettes Haus in Himmelpforten zugelegt und hatte Zeit für unsere Idee, ein gemeinsames Label zu starten. So gings los!
RockTimes: Und Lothar, der leider viel zu jung gestorben ist, wird sich 'da oben' freuen, dass aus dem Baby Sireena ein stabiles, anerkanntes und sehr geschätztes Label geworden ist, das einem perfekt gewarteten Schiffsdiesel gleich, unbeirrt durch die Musikmeere schippert, um hier und da anzulegen.
Tom, zurück zum Thema, zu "Les Variations Sonnenuhr": Was ist denn das textliche Thema des Albums?
Emilio: Momentan interessieren mich Texte, die Geschichten erzählen nicht besonders. Mir geht es mehr um die Magie und den Sound von Worten, wie z. B. Onyx, Quarz und Opal. Das sind elementare, stoffliche Dinge, die einen sehr schönen Klang haben. In der Kombination bekommen sie geradezu etwas Mythisches. Und es geht ja auch immer irgendwie um den Kampf ums Überleben: Boxen, sich durchboxen oder boxen, um fit zu sein für eventuelle Gefährdungen. Ich habe meistens einen Stift und Papier neben meinem Bett. Manche Texte stammen direkt aus Träumen. 'Murmelnde Mauern im Regenschauer' – ergibt nicht wirklich Sinn. Seit wann können Mauern murmeln? Aber im Traum ist so etwas völlig plausibel. Für mich zumindest.
RockTimes: Da kann ich nicht anders, als zuzustimmen. Als jemand, der so alt ist, dass er mit klassischen Märchen aufgewachsen ist, sind so Sachen wie murmelnde Mauern auch außerhalb eines Traumes durchaus nichts Verrücktes. Und ich sehe es oft auch so, dass mich Text mit Sinn und Aussage von der Musik ablenkt. Es ist schwer, sich festzulegen, es kommt wie bei allem auf das Gesamtpaket an. Was dieses Paket angeht, wie kann man sich denn die Geburt neuer Stücke von euch beiden vorstellen? Bist du alleinig für das Wort und Tom für die Musik zuständig, oder überschneidet sich das auch?
Emilio: Bei den englischsprachigen Stücken haben wir beide die Texte geschrieben.Tom sicher mehr als ich. Die aktuellen deutschsprachigen Texte sind bislang ausschließlich von mir. Manchmal entstehen die Texte auch erst im Studio. Mir fällt es tatsächlich oft leichter, die Texte in letzter Sekunde zu formulieren. Vielleicht, weil dann die Konzentration stärker ist. Bei den Kompositionen ist es ähnlich. Meist hat Tom eine Grundidee, die wir dann gemeinsam ausarbeiten.
RockTimes: Dann werde ich mit Spannung kommende Songs erwarten und schauen, in welcher Sprache die Lyrics sind bzw. ob es sich um Stories, oder aber um »Magie und den Sound von Worten« geht. Auch werde ich beim nächsten Hören von "Les Variations Sonnenuhr" den Fokus gerade auf Letztgenanntes legen. Emilio, gibt es einen tieferen Sinn bezüglich deines 'aka' The Hidden Gentleman?
Emilio: Mich hat schon immer das Verborgene mehr interessiert, als das Offensichtliche. Als ich Mitte der 80er nach Bremen kam, wurde ich eingeladen mit meiner damaligen Band MINT bei einem kleinen Festival aufzutreten. Leider hatte außer mir keiner der Kollegen Zeit. Ich bin dann alleine mit Halbplayback aufgetreten und hab mir den Namen zugelegt. Als ich später mit Tom zusammenkam fiel er mir wieder ein und dann ist es dabei geblieben.
RockTimes: Und es ist ebenfalls gut, dass ihr beide nach wie vor zusammen seid und uns immer wieder mit starker Musik erfreut und dazu Leuten wie mir zeigt, wie unheimlich groß ein Tellerrand sein kann, Vielen Dank für das Gespräch euch beiden und ich freue mich bereits auf kommenden Output.
Bis dahin lese ich Toms neues Buch "Gull Swat" und höre dazu die berühmte "Ages".
Alle gezeigten Fotos wurden uns von Tom Redecker für dieses Interview zur Verfügung gestellt.
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