
In der Schule habe ich mich viel mit Psychologie auseinander gesetzt. Viel Freud, viel Leid, hatte man uns damals ein wenig despektierlich angedroht, ich hab es nie so empfunden. Interessanterweise kommen in letzter Zeit vermehrt Denkanstöße in diese Richtung, vornehmlich von deutschen Combos. Glasgow Coma Scale aus Frankfurt zum Beispiel, die sich gleich mal nach einer Skala für die Bewertung von Bewusstseinsstörungen benannt haben. Und nun treten sehr ambitionierte Herren aus Nürnberg mit ihrem Zeitverschiebungsunfall in Erscheinung, wie der Bandname ja wohl zu übersetzen ist; mit einem Albumtitel, bei dem wieder einmal Herr Google helfen musste und der neue Pfade ins faszinierende Reich der Psyche eröffnet. Demnach ist "Chronosthesia" oder auch »Mental Time Travel« ein Begriff aus der Psychologie, der kreiert wurde in der Zeit, als ich die Schulbank bereits verlassen hatte. Er bezeichnet knapp ausgedrückt die Fähigkeit des Geistes, vergangenes Erlebtes gedanklich in die Gegenwart zu befördern und zukünftige Geschehnisse vorzudenken und zu empfinden. Also auch irgendwie Zeitverschiebungsunfälle?
"Chronsthesia" führt aber nicht nur thematisch in ein Füllhorn spannender Themen, die Musik – irgendwo zwischen modernem Prog und frischer Fusion – könnte als Metapher zu ihren Inhalten kaum geeigneter sein, denn, das kann ich vorweg nehmen, die Herrschaften haben es drauf. Und weil es sich um ein rein instrumentales Album handelt, sind Assoziationen und Interpretationen freiem Lauf ausgesetzt.
Schon die Songtitel lassen vermuten, dass die beschriebene Bedeutung des Albumtitels wie ein roter Faden die Musik begleitet. Gleich der erste Track, "Cold Case", nimmt diesen Faden auf, beschreibt doch der Terminus ungeklärte, zu den Akten gelegte Kriminalfälle. In einer gleichnamigen Fernsehserie diente die "Chronosthesia" quasi als Plot, denn dort wurden alte Fälle neu aufgerollt und dank der beschriebenen Fähigkeiten, hier durch die Ermittler, in der Gegenwart gelöst. Oder nehmen wir Ignalina, eine Stadt in Litauen, wo der Rückbau eines russischen AKW als Bedingung für den EU-Beitritt unter großen Schwierigkeiten vollzogen wurde. Nun setzt die Region auf Tourismus und der "Ignalina Forrest" könnte somit als ein Synonym der Hoffnung auf eine bessere Zukunft angesehen werden – ein weiteres positives Beispiel für "Chronosthesia", für Weitsicht und Vorausdenken.
Die ersten drei Nummern bieten jazzig treibende Fusion mit repetitiven Hooklines und quirlig pointierten Soli, bei der hier und da die metallene Vergangenheit des Sechssaiters durchklingt. Aber auch die irre Akrobatik auf den Tasten, mal perlend auf dem Piano, dann mit satten Keyboard-Wänden, die mir ein wenig Achtziger-Jahre Feeling verpassen, man schaue sich nur mal wieder die legendären Schimanski-Krimis an. Und weil wir uns mit einer satten Schnittmenge im Jazz befinden darf auch der Bass hin und wieder solieren, während das Nachwuchstalent Paul an den Fellen brodelnd virtuos den Kurs vorgibt.
Die Songs bieten eine Art Mittelweg zwischen clever durchdachten, frischen Kombinationen mit Melodien, die zwar stets für Überraschungen sorgen, aber auch jede Menge Freiraum für solistische Einlagen bieten. Die ab und zu eingestreuten, leicht Latino-geprägten Einlagen kenne und liebe ich, seit ich einst Al di Meola entdeckt habe – eine tolle Reminiszenz.
"Wish" ist dann ein Break in mehrerlei Hinsicht. Zum einen fängt der Song den Hörer nach einer ersten, waghalsigen Achterbahnfahrt instrumental anspruchsvoller, Jazz-lastiger Musik der ersten Songs mit einem warmen Timbre aus sanft schwebenden, organischen Orgelklängen ein, die eine wunderschön balladenhafte Atmosphäre zaubern. Die Gitarre wechselt zwischen einer melodisch rockigen Harmonie, die fast vom legendären Jeff Healey stammen könnte zu einer leichten jazzigen Improvisation, die später ihr Äquivalent auf den Tasten findet. So gönnt das Stück uns eine entspannte Phase der inneren Zurücklehnung und Einkehr. Und wer Herrn Healey, der bei aller Viruosität ein hinreißendes Gefühl für Melodik hatte, als klassischen Bluesrocker an dieser Stelle als ungeeignetes Zitat empfinden möchte, dem sage ich: Gemach, es gibt noch vergleichbare Überraschungen im letzten Teil des Albums, die einen solchen Trend bestätigen werden.
Es ist aber ganz sicher kein Zufall, dass nach dieser kürzesten Nummer auf dem Album aufgedreht wird, nun aber in eine weitgehend andere Richtung. Wir finden uns augenblicklich auf einer Reise durch aufregend exotischen progressive Rock, der dem Titel "Damascus Dance" entsprechend mit einem leicht orientalischen Thema aufwartet. Schon der gurgelnd murmelnde Auftakt aus Saitentönen zeigt, dass wir eine andere Welt betreten. Ja, jetzt phrasieren unsere Zeitverschiebungsverunfallten wie losgelassene Derwische über den Relikten einer Jahrtausende alten Kultur. Ein geheimnisvolles Bass-Solo leitet mit krautigen Keyboards über in herrliche Gitarrenlinien, wie sie Eric Gillette seinem Meister Neal Morse so gerne zur Verfügung stellt. Und ein neuerliches Break entzündet wilde metallene Riffs, die damit einen heftigen und bis hierhin nicht verwendeten Knalleffekt setzen und noch einmal Erinnerungen wecken an die Vergangenheit insbesondere von Gitarrist Dave. Die daraus erwachsende Harmonie hingegen ist von erhabener Schönheit und würde jeder Prog-Band zur Ehre gereichen. Und da ich Neal schon als Vergleich herangezogen hatte; seine Darstellung der Kämpfe des Protagonisten mit übermächtigen Gegnern auf seinen letzten beiden epischen Alben klingt durchaus vergleichbar. Wir sind mitten drin im bestem, modernen Prog. Geil, dass diese Musik nicht irgendwo, sondern hier bei uns in Deutschland entstanden ist. Das absolute Highlight des Albums!
Ich weiß nicht, ob man sich bei der Komposition von "Damascus Dance" an den berühmten "Egyptian Danza" erinnert hat, den Al di Meola 1978 auf Casino einspielte, eine gewisse Parallele zu dieser Musik ist sicher nicht zu leugnen. In wie weit gerade Damaskus, die Hauptstadt des vom Krieg und vor allem von fremden Mächten zerrissene Syrien, aus gesellschaftspolitischer Intention heraus thematisiert wurde, weiß ich natürlich auch nicht. Den Menschen dort würde man sicher eine Zeitverschiebung der realen Art wünschen, damit dieses unsägliche Morden auf Raten endlich zu Ende gehen möge.
Die nächsten beiden Nummern kommen wieder etwas kürzer und komprimierter daher und im Intro von "Pompei" kam bei mir ein Anflug von Cream vorbei, vielleicht liegt es ja an Michael Schetters geilem Bass. Und dann überrascht mich der ungeheuer vielseitige Günter W. Schuck an den Tasten mit einer Piano-Einleitung, die glatt von Loreena McKennitt stammen könnte. Wunderschön nimmt die Gitarre dieses leicht melancholische, irgendwie nostalgische Thema auf. Es entwickelt sich eine verträumte Meditation und Interpretation über diesem Thema. Die künstlerisch verwobenen Breaks stören den Flow dieses sanft dahin treibenden Stroms überhaupt nicht, "Borsuki" ist eine echte Wohlfühlnummer, obwohl das Wort im polnischen nicht nur den Dachs, sondern auch eine von ihm übertragene Krankheit zu bezeichnen scheint.
Und noch einmal empfängt mich ein zitatgeschwängertes Intro, das wie eine Mischung aus White Room und Vanilla Fudges "You Keep Me Hanging On" über mich kommt. "The Hand Of God" gibt dem ganzen Werk am Ende noch einmal den göttlichen Beistand, den es aber keinesfalls braucht. "Chronosthesia" setzt Maßstäbe in einem Raum voller spannender Schnittstellen. Eine derart explosiv zündende Mischung aus technisch versierter Fusion und zeitgemäßem Progressiv-Rock muss man lange suchen.
Die Musik von Time Shift Accident reißt mit, macht Spaß und Freude auf mehr. Beinahe scheint es, als würde progressive Rockmusik gerade eine Renaissance erleben, hab ich doch eben erst das tolle und wirklich artverwandte Album von Yuval Ron besprechen dürfen und obendrein gerade gelesen, dass Mule bei ihrem New Years Eve-Konzert in Manhattan einige Stücke von Yes gespielt haben, unter anderem Teile des einzigartigen und hoch komplexen "Gates Of Delirium". So darf es ruhig weitergehen, hier und jetzt in 2020 – Zeitverschiebungsunfälle, die ich mir gerne gefallen lasse.
Line-up Time Shift Accident:
Dave Mola (guitar)
Michael Schetter (bass)
Günter W. Schmuck (keyboards)
Paul Ettl (drums)
Tracklist "Chronosthesia":
- Cold Case
- Boonar Eclipse
- Ignalina Forest
- Wish
- Damascus Dance
- Pompei
- Borsuki
- The Hand Of God
Gesamtspielzeit: 57:57, Erscheinungsjahr: 2019
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