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Traumzeit-Festival in Duisburg, 16. – 18.06.2017 – Konzertberichte

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Traumzeit ist ein mythologischer Begriff aus der Geschichte der Ureinwohner Australiens. Es geht sinngemäß um die Beziehung der vergangenen Geschichte des eigenen Volkes und der selbst zu erschaffenden Zukunft. Wikipedia erklärt das alles noch sehr viel ausführlicher, aber auch ausdrücklich komplizierter.
So oder so ist dieser Begriff als Metapher für ein musikalisches Grenz-Erlebnis perfekt gewählt. Bei der Traumzeit treffen Jazz und Rock mit Pop und Country/Folk und Weltmusik zusammen. Bei uns im Pott geht eben alles, Verschmelzen konnten wir schon immer – nicht zuletzt in der Stahlindustrie!

Es muss fast einem Sakrileg gleichkommen, dass ich als musikinteressierter Duisburger heuer zum ersten Mal der Traumzeit meine Aufwartung machte. Es gab schon mehrfach den Versuch zur Teilnahme, aber am Ende kamen immer irgendwelche andere Termine dazwischen. Manchmal setzt man seine Prioritäten vielleicht auch nicht ganz richtig.

Die faszinierende Kulisse des Landschaftsparks Nord in Duisburg-Meiderich ist allein schon einen Besuch wert, vor allem am Abend,  wenn die Illumination des britischen Künstlers Jonathan Park das alte Hüttenwerk in eine Landschaft wie aus Phantasien verwandelt. Vier Bühnen warten während der Traumzeit auf den Musikfreund, zwei davon open air.

Glasgow Coma Scale

Es war schon eine innere Freude, dass ausgerechnet GCS das Eröffnungskonzert fürs diesjährige Festival spielen durften. Seit jenen Tagen zu Beginn des Jahres, als ich ihre CD besprechen durfte, hat sich ein freundschaftlicher Kontakt zu der Band entwickelt und es betrübt mich, dass ich keine Gelegenheit bekommen habe, mal 'Guten Abend' zu sagen. Ihre eigene Zugabe war sozusagen Schuld daran, denn ich musste mich sputen, um den Auftakt des Konzerts von Jungspund Jesper Munk nicht zu verpassen. Ich hoffe, ihr vergebt mir, Freunde!

Gebremst hat es die Kollegen aus Frankfurts Umgebung ganz sicher nicht, denn sie lieferten einen energiegeladenen Gig ab, der wie schon angedeutet und für ein Festival eher untypisch sogar in einer Zugabe endete. Weitgehend hielt man sich an das Programm, das mir schon von der wirklich schönen Platte Enter Oblivion bekannt war. Überraschend war eher die eindrückliche Power, mit der das eben solche Trio seine Songs in den Meidericher Abendhimmel hinausspielte. Drummer Helmes bediente immer wieder zu Beginn einer neuen Nummer die Sound-Maschine und startete einen sphärischen Teppich, den die Kowalski-Brüder sodann mit saitentechnisch subtilen wie auch brachialen Mitteln bespielten. Das Publikum wuchs mit jeder Minute, aus allen Richtungen schienen sich die Rock-Freunde an die Bühne heranzuwagen. Anfangs eher vorsichtig und schüchtern, mit zunehmender Zeit und der Erkenntnis, dass hier eine Band keine Gefangenen machen möchte, auch immer mehr auf Tuchfühlung. Augenzwinkernde Szenen zwischendurch verschafften uns drei kleine Zwerge zwischen zwei und vier Jahren, die mit riesigen Ohrenschützern bewaffnet in hinreißender Motorik die Musik von Glasgow Coma Scale interpretierten. Selbst Gitarrenmann Piotr auf der Bühne konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Traumzeit ist immer auch Familienzeit.

Bemerkenswert bleibt auch der Hinweis darauf, dass ja der Titel des aktuellen Albums nichts anderes als den Übergang des menschlichen Geistes in eine Zeit des Vergessens bezeichnet, genauer genommen den Moment, kurz bevor man in den Schlaf verfällt und womöglich eine Phase ganz besonders ausgeprägter Kreativität durchlebt. Das ist übrigens wissenschaftlich bewiesen. Schafft man es, diese Momente einzufangen und zu archivieren, wird man daraus eine Menge toller Dinge gewinnen können. So oder so ähnlich lautet denn auch die Titel gebende These des Albums und ich muss gestehen, dass ich selbst eine ganze Reihe solcher grenz- und vergessensnahen Erfahrungen gemacht habe. Die Kunst liegt eben darin, solche Momente festzuhalten. Mir hat am Ende tatsächlich der billig alte Notizblock neben dem Bett ganz ausgezeichnete Dienste erwiesen, das mag jeder für sich halten, wie er mag.

Jesper Munk

Was soll man Neues schreiben über einen, den man als eine Art Wunderkind des deutschen Blues schon in diversen Berichten beschrieben hat? Ich wollte ihn eigentlich schon vor ein paar Jahren mal in München besuchen, als er im Olympia-Park mit Henrik Freischlader für Warren Haynes, damals unterwegs mit der Ashes & Dust-Band, eröffnen durfte. Respekt, Support für den Mule-Meister, das kann kein so ganz Schlechter sein. Und Jesper mit seiner hoch engagierten und perfekt eingestimmten Band zeigte uns, wo seine Stärken liegen – selbst als relativ früh im Set eine Saite riss. Der Junge hat einen schrill, aggressiven Stil drauf, genauso wie sensibel zurückgenommene Songs voller Wehmut und Verzweiflung. Blues und immer wieder auch aggressiver Rock auf eine höchst moderne Weise vorgetragen, seine Phrasierung hat mitunter etwas unterschwellig Punkig-rebellisches – so weit man das im Blues so nennen darf. Gerade das junge Publikum schien in diesem Konzert einen eindrucksvollen Magneten erkannt zu haben, so viele kreischende Teenies bei einem Blues-Konzert habe ich ehrlich gesagt noch nicht erlebt. Das ist eben Jespers Generation, auch wenn seine Musik eher verwurzelt ist in der unserer Großväter. Und das meine ich aus tiefstem Respekt. Jesper Munks Interpretation von Blues sprengt in vielerlei Hinsicht alte Gewohnheiten und verleiht einem traditionellen Medium damit neues Leben. Großartig, dass junge Leute sich auf ein solches Wagnis einlassen, der Erfolg gibt ihm Recht!

The Slow Show

Und dann nahmen eine Menge unvorhersehbarer Dinge ihren Lauf. Ich kann mich an dieser Stelle nur bei meinem Freund und Kollegen Heinz W. Arndt bedanken, der mir vor wenigen Wochen den Zugang zur Musik dieser Band vermittelte.

The Slow Show - begeisterte Menge

The Slow Show – begeisterte Menge

Aus einem sakralen Choral vom Keyboard oder einem Soundboard eingesteuert (ein Song namens "Brick") und auf der aktuellen Platte ganz am Ende platziert, füllte sich die Gießhalle mit einer geheimnisvoll melancholischen Atmosphäre und die Musiker betraten geradezu andächtig die Stätte ihres Schaffens, nur um sogleich das einmalige und zutiefst anrührende "Strangers Now" zu zelebrieren. Die Halle schwieg, starrte und staunte ergeben über das kleine, sensible und den einen oder anderen sogar zu Tränen hinreißende Stückchen Musik, nur um nach der Nummer in frenetischen Beifall auszubrechen. Spätestens jetzt war schon klar: Die Jungs aus Manchester mit ihren leisen, gefühlvollen Tönen und der ungeheuer einfühlsamen, tiefen und charismatischen Stimme von Sänger Rob Goodwin waren mitten im Herzen von Duisburg angekommen. Mitunter tief traurige Geschichten von Liebe, alt werden und Tod wurden subtil und voller Empathie dargeboten, immer mit der angemessen zurückgenommenen Instrumentalisierung, bei der die schöne Solo-Trompete gemeinsam mit einer auf das Wesentliche reduzierten Gitarre und einem geheimnisvoll, mitunter dramatischen Keyboard immer wieder den großartigen Gesang kommentierte. Was für ein Bariton.

Am Ende schauten sie alle fast ein wenig verstört in die weite Runde der fast eintausend Zuschauer. Das Publikum bejubelte einen Auftritt, der wahrlich Grenzen in der Musik überschritten hatte und die Musiker wussten anscheinend kaum, wie ihnen geschah. Traumzeit für ein traumhaftes Ereignis, man wog sich gegenseitig in Wellen voller Liebe und Zuneigung, eine einmalige Stimmung in einem Konzert, wie ich sie so noch nie zuvor erlebt habe. Gut, meine gewöhnlichen Besuche finden in härteren Musik-Gefilden statt, aber hier und heute wurde Gefühl geboten, wie ich es so nie erwartet hätte. Ich war stolz auf meine Stadt und ihre Bewohner, die wieder einmal bewiesen hatten, wie sehr sich Menschen unserer Umgebung gewinnen lassen, wenn man ihnen mit ehrlichen Gefühlen begegnet. The Slow Show sind ein kleines bisschen das geheime Highlight für einen überwältigenden Juni. Auch ein Mulehead schaut über den Tellerrand!

Aëdon

Wenigstens die Jungs von Aëdon wollte ich am zweiten Tag endlich mal kennen lernen, hatte mich ihr aktuelles Album doch so sehr überzeugt. Da ich für den zweiten Festivaltag keine weiteren Pläne verfolgte, sollte ich eine eher entspannte Zeit genießen können. Wie schon Glasgow Coma Scale am Freitag zuvor durften unsere Freunde aus dem Ruhrgebiet an diesem Nachmittag das Festival auf der Gasometer-Bühne eröffnen. Vorgeprägt von der Erstlings-EP erwartete ich ein Konzert aus dem Reich des Neo-Prog, fand es hingegen ein Stück weit erstaunlich, dass im Festival-Begleitmaterial auch Parallelen auf die von mir sehr geschätzten Porcupine Tree aufgezeigt wurden. Die hatte ich in der EP nicht unbedingt heraushören können, doch dort auf der Bühne verstand ich sehr schnell, warum man zu diesem Vergleich gegriffen hatte. Am Ende bereiteten sie uns mit einer Zugabe und einem Cover-Song eben jener Band den allerbesten Beweis dafür, dass dieser Aspekt ganz und gar wahrhaftig in der Musik von Aëdon verwurzelt ist. "Trains" hieß die Nummer und ließ die inzwischen stattliche Anzahl anwesender Enthusiasten mächtig abgrooven.

Bis dahin führten uns die jungen Musiker aus unseren heimischen Regionen durch ihr wunderschönes, melancholisches Album auf einem Bett von durchgängig stimmiger Rhythmik und Harmonie, mit den Kulminationspunkten aus eindrucksvoll emotionalem Gesang von Simon und der mal hinreißend progressiven, dann wieder wild energetischen Gitarre von Max.

Später hatten wir noch ein bisschen Gelegenheit, beim Bier zu plaudern und Max versprach für das neue Album, die auf der Bühne deutlich heftigeren Passagen und den aggressiveren Duktus der Band auch dort auf die Tonträger zu bannen. »Für ein kurzes Album wie die EP war es völlig ok, eine derart durchgängige Stimmung zu kreieren und zu verfolgen. Auf der neuen und längeren Scheibe werden wir da noch ganz andere Wege gehen«. So oder so ähnlich klingt das Versprechen einer jungen Band aus dem Ruhrgebiet, die mit ganz viel Gefühl und Engagement ihre Songs auf den Plan bringt und die nicht zu Unrecht von Peter Burschs Euro-Rock massiv gefördert wurde.

Am Ende habe ich mir die Headliner nicht mehr angesehen, die kamen ohnehin aus einem anderen Kosmos. Doch ich habe mir von vielen jungen Leuten vor Ort erklären lassen, dass Tom Odell und Milky Chance absolut angesagt sind, auch wenn die Namen mir nichts sagten. Genau das ist eben Traumzeit. Ein Ausflug in viele verschiedene Welten der Kultur und ganz viele, verschiedene Einflüsse aus allen möglichen Richtungen der Musik. Hier können ganz unterschiedliche Menschen gleichzeitig glücklich werden, viel besser kann Leben gar nicht sein. Daher gilt mein Glückwunsch den Bookern, die ihr Handwerk wahrlich verstehen und mein Dank dem Festival-Büro und der Stadt Duisburg, namentlich Herrn Bracht und meinem alten Weggefährten aus früheren Aktivitäten, Frank Jebavy, für die Akkreditierung.
Duisburg ist wohl eine der am meisten unterschätzten Städte in Deutschland, wahrscheinlich auch darum, weil viele Menschen eher die Berichterstattung aus den Medien kennen als die Stadt selbst. Wäre es anders, der Ruf wäre ein anderer.

Der Landschaftspark Nord verzaubert die Menschen durch Bodenständigkeit und tiefe Verwurzelungen mit der Geschichte unserer Heimat – fast so, als habe er seine eigene Seele. Einmal im Jahr blüht er ganz besonders auf  in expandierenden, emotionalen und mitreißenden Musik-Exzessen. Dann gehen wir Duisburger in unsere Traumzeit, auf der Suche nach unseren Wurzeln und dem tief empfundenen Wunsch, die Zukunft zu prägen für eine Welt in Frieden und voll mit Musik – Musik, die alle mitnimmt und jeden ein ganz klein bisschen reicher machen kann – in diesen schwierigen Zeiten.

Ein wirklich schöner Traum!

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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