Es war einmal eine kleine irische Band. Die spielte alternativen Rock, der aus dem Zeitalter des Punk seine Wurzeln zog. Die vier Musiker verbanden ihre rohe und puristische Musik mit sozialen und politischen Botschaften, leidenschaftlich und voller Hingabe, ganz besonders auf der Bühne – aber grundsätzlich eher im Verborgenen. Die Weltöffentlichkeit wusste kaum etwas über seltsame Namen wie Bono oder The Edge.
Doch 1987 wurde all das Geschichte, denn da gelang den jungen Wilden von der schönen grünen Insel ein Befreiungsschlag von epochaler Bedeutung. "The Joshua Tree" wurde ein Schuss in die Sterne, und das völlig zu Recht. Sieben Jahre unaufhaltsamer Aufstieg vom Fuß des Berges auf den Gipfel, es klingt fast wie ein Märchen.
Ein persönlicher Rückblick wird verdeutlichen, warum mich damals dieser sensationelle Erfolg der Band so riesig gefreut hat. Als ich mich im Mai 1982 auf meine mündliche Abiturprüfung (ich Dämel hatte tatsächlich Latein als viertes Abi-Fach gewählt) vorbereitete, da beschäftigte ich mich nicht mit grammatikalischen Figuren unserer alten Römer, sondern zog mir U2s "Rejoice" und "Gloria" rein. Ich hatte die Band kurz zuvor in einer kurzen Einspielung als Geheimtipp im Rockpalast gehört und war ihr sofort sehr zugetan. Die Prüfung hat dann schließlich auch noch geklappt, vielleicht ist es ja der guten Musik zu verdanken gewesen, die mich in die richtige Stimmung gegroovt hat. Danke U2, wenn’s denn so war.
Später wurden sie einem größeren Publikum durch ihr legendär chaotisches Loreley-Konzert im Rockpalast bekannt, als gerade Bono vor überschäumender Leidenschaft und Motivation kaum wusste, wie er all seine Botschaften an das versammelte Publikum vor der Bühne und den Bildschirmen loswerden sollte. Man muss sich vergegenwärtigen, wie unruhig die Zeiten auf der Insel damals waren, der irrsinnige Religionskrieg und Bombenterror tobte damals noch und lieferte viele Gründe, wütend und leidenschaftlich engagiert zu sein. Eben wie U2 es immer waren.
Dieser aufsteigende Bekanntheitsgrad und großartige Hymnen wie "Sunday Bloody Sunday" und vor allem "Pride (In The Name Of Love)" gaben U2 den Touch von Rebellen, von aufbegehrenden Kämpfern, die sich mit den Ungerechtigkeiten und Missetaten der Welt nicht abfinden wollten. Ihre Songs artikulierten die Wut einer neuen Jugend, genau wie es einst The Who getan hatten.
Um sich selbst ständig neu zu definieren und weiter zu entwickeln entschied sich die Band, für das damals geplante neue Album mit keinem Geringeren als Brian Eno zusammenzuarbeiten. Außerdem wurde der Multiinstrumentalist Daniel Lanois verpflichtet, um den Songs mit seinen Möglichkeiten neue Spektren zu erschließen.
Ich werde niemals jenen Moment vergessen, als das Vinyl von "The Joshua Tree" auf meinem Plattenteller erstmals rotierte. Gerade zurück vom Grundwehrdienst und ein Stück weit genervt über die Entwicklung der Rockmusik in den Achtzigern freute ich mich eben umso mehr auf eine Band, die mich bis dahin begleitet und stets überzeugt hatte.
Und dann dringt dieser mystisch, sphärische und überaus untypische Auftakt durch meine eher preisgünstigen Boxen, fast sakrale Klänge schweben geheimnisvoll im Raum, bis eben diese unbeschreiblichen, glasklaren repetitiven Gitarrensounds und die stoisch marschierenden Bässe die Spannung aufbauen und mit dem hinreißenden Gesang von Bono ganz langsam und allmählich die Intensität bis kurz vorm Zerreißen steigern. "Where The Streets Have No Name", ein Song wie ein Manifest, der sich vom ersten Moment an ins Hirn brennt, in Stein gemeißelt und für die Ewigkeit bestimmt. Nach wenigen Sekunden dieses einzigartigen Stücks neuer Musik war ich Feuer und Flamme. Damals im Jahre des Herren 1987. Die Faszination ist bis heute geblieben, auch wenn ich ehrlich gesagt nach "Rattle And Hum" den Zugang zu U2 verloren habe. Zu ihrer großen Zeit, und das waren für mich halt die Tage um "The Joshua Tree", da waren sie die Größten. Aufgestiegen aus dem Underground, immer zielstrebig auf dem Weg, Botschaften zu vermitteln und mit ihrer Musik zu punkten, ohne jedes Kalkül auf kommerzielle Auswirkungen. U2, die Hoffnung der alten Rocker und der engagierten Weltbürger, dass aus unserer Kultur endlich wieder Impulse kommen. Genau das war es, was viele damals vermissten in den Achtzigern.
Über die Platte im Einzelnen zu referieren erscheint mir angesichts der Beliebtheit und Verbreitung des Albums eher unangemessen, darüber ist weltweit viel geschrieben worden. Ich möchte nur meinen persönlichen Eindruck einbringen, dass ich den Kulminationspunkt der gesamten Produktion eindeutig immer in "With Or Without You" gesehen habe. Ein sensibler Steigerungslauf, den Bono am Ende mit seiner Stimme in ekstatische Spannungsfelder führt. Das ist magisch und sucht seinesgleichen. Gut, damit hat das Album seine höchsten Ausschläge allesamt im ersten Drittel platziert, aber das Niveau wurde damals bis zum letzten Song gehalten und machte "The Joshua Tree" zu dem, was die meisten Rockfreunde heute in ihm sehen: Die vielleicht wichtigste Scheibe der Rockmusik in den Achtzigern.
Zuletzt habe ich mal wieder Wim Wenders "Paris Texas" angeschaut und die Parallelen zu der Musik auf "The Joshua Tree" sind eindrücklich, man höre hierzu einfach mal in "Running To Stand Still" rein. Dass es in dem Song um Drogen geht, leistet alldem keinen Abbruch, denn dieses Thema berührt Dublin nicht weniger als Dallas. Kein Wunder, dass die Band so stark von amerikanischen Mythen und Realitäten geprägt wurde, verbrachten sie in den frühen Achtzigern doch ganz viel Zeit auf dem neuen Kontinent. "Bullet The Blue Sky" entstand damals als Reaktion auf die Politik der USA in El Salvador, wo Bono mit seiner Frau dem Begleitmaterial zur Folge selbst in eine Schießerei geriet. Man könnte die Liste leider sehr viel länger werden lassen, denn die imperialistischen Tendenzen amerikanischer Außenpolitik haben in den letzten 30 Jahren nicht abgenommen. Das Gegenteil ist der Fall, man denke nur an eine halbe Million tote Zivilisten im Irak. Gespenstische Aktualität eines zeitlosen Rocksongs.
Gewöhnlich halte ich mich zurück mit Erwerbungen solcher Neuveröffentlichungen, weil ich an Gimmicks wie 'Extended Versions' und 'Alternative Remixes' ehrlich gesagt nicht besonders interessiert bin. Hier aber gibt es eine Bonus-CD, die es wahrlich in sich hat. Das (nicht ganz) komplette Konzert aus dem Madison Square Guarden aus der Tour zum Album. Ein fantastisches Dokument einer Band auf ihrem Höhepunkt, direkt von der Bühne, wo sie sich Auge in Auge mit ihren Fans bis zur völligen Verausgabung präsentieren konnte. Diese Liveaufnahme macht aus der Sonderedition ein historisches Vermächtnis. Da lebt man durchaus mit dem Manko, dass die Studioversion quasi unbearbeitet neu abgebildet wurde. So gesehen bildet diese Art von 'Geburtstags-Version' ein Stück weit einen Gegensatz zur frühen gesellschaftlichen Ausrichtung der Band, als eben kommerzielle Erwägungen kaum im Raum standen. Wiederveröffentlichungen hingegen dürften dem Geldbeutel nicht feindselig entgegenstehen. Die Zeiten ändern sich eben.
"The Joshua Tree" ist ein altehrwürdiges Monument, eine archaische Gestalt wie der Baum, der dem Album den Namen gegeben hat. Es wird selten von einer Band behauptet, dass sie eine Epoche geprägt hat. U2 hat das geschafft und ich bin froh und glücklich darüber, dass ich ihren Aufstieg miterleben durfte.
Line-up U2:
Bono (vocals)
The Edge (guitars, backing vocals)
Adam Clayton (bass)
Larry Mullen Jr. (drums)
Additional Musicians:
Daniel Lanois (tambourine, omnichord, additional rhythm guitar – # 5)
Brian Eno (keyboards)
Tracklist "The Joshua Tree":
- Where The Streets Have No Name
- I Still Haven’t Found What I’m Looking For
- With Or Without You
- Bullet The Blue Sky
- Running To Stand Still
- Red Hill Mining Town
- In God’s Country
- Trip Through Your Wires
- One Tree Hill
- Exit
- Mothers Of The Disappeared
- Where The Streets Have No Name
- I Will Follow
- Trip Through Your Wires
- I Still Haven’t Found What I’m Looking For
- MLK
- Bullet The Blue Sky
- Running To Stand Still
- In God’s Country
- Sunday Bloody Sunday
- Exit/Gloria
- October
- New Years’s Day
- Pride (In The Name Of Love)
- With Or Without You
- Party Girl
- I Still Haven’t Found What I’m Looking For
- "40"
Gesamtspielzeit: 50:02 (CD 1), 76:36 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2017 (1987)
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