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Ueberschaer / Flow Of Times – CD-Review

Ueberschaer / Flow Of Times

Ueberschaer ist ein progressives Projekt des Sängers Heiko Ueberschaer mit seinem Kompagnon Axel Köhnken, der nicht nur die Saiten beisteuert, sondern auch fürs Mixing und die Produktion verantwortlich zeichnet. Und das Line-up lässt keine Wünsche offen – wenn man allein die Bands vernimmt, mit denen diese Jungs schon gespielt haben.Die lange Liste gebe ich hier nicht wider und eine Auswahl wäre ja nur wieder nach meinem Gusto, den ich mir an dieser Stelle verkneifen möchte.

Wir haben es im Plot des Albums mit einem spannenden und ziemlich dramatischen Handlungsverlauf zu tun, der kunstvoll in Zeitsprüngen erzählt wird und zu einem klassischen Konzeptalbum verwoben wird. Es geht um ein fiktives Paar, mit all seinen guten und schlechten Zeiten, bis nach einem Streit ein Schicksalsschlag die Frau aus dem Leben reißt, womit der Mann lange Zeit nicht fertig wird. Letztlich akzeptiert er sein Schicksal und zum Ende des Albums erleben wir ihn in den letzten Momenten seines Lebens, in denen er noch einmal zurückdenkt an seine große Liebe.
Harter Tobak und man könnte befürchten, in ein tief düsteres und deprimierendes Szenario hineingezogen werden. Dem ist aber nicht so. Die gesamte Komposition hat einen irgendwie warmen und friedfertigen, wenngleich themenbedingt natürlich melancholischen Ausdruck, was nicht zuletzt an Heikos einnehmender Stimme liegt, die mich vom ersten Moment beginnend an die Stimme Roine Stolts erinnert hat, allerdings in einer Bariton gestimmten Version, was dem Flow der Atmosphäre insgesamt sehr gut tut. Hysterisch schrille Sangesstimmen gibt es im Prog genug und die würden hier nicht in den Kontext passen. Liegt es an Meister Stolt, dass ich in den entspannteren Momenten des Albums durchaus Verwandtschaft mit den Flower Kings höre? Es gibt aber auch Passagen, in denen harte aggressive Riffs den Duktus beeinflussen. In diesen Momenten mag der Hörer sich eher an Dream Theater oder die Neal Morse Band erinnern. Axel Köhnken steht dabei den Herren John Petrucci und Eric Gillette in nichts nach und setzt einige schöne Highlights. Sehr schön sind immer wieder auch rassige Keyboard-Schnipsel, die für mich einen wunderbares Siebziger Jahre-Flair besitzen.

Das Album beginnt mit dem dreigeteilten "Heavens Gate". Thematisch beginnt die Geschichte damit in der Gegenwart mit der Bestattung der geliebten Frau unseres Protagonisten. Erst später reisen wir in die Vergangenheit, erfahren, wie unsere Helden sich kennen und lieben lernen, wie es zum schicksalhaften Ereignis kommt und wie der Mann damit hadert. Dieser Aufbau mit den Zeitsprüngen in der Handlung ist ein bewährtes Stilmittel des großen Kinos, man denke nur an Sergio Leones Meisterwerk "Once Upon A Time In America". Doch während am Ende dieses cineastischen Epos Robert de Niro feststellen muss, dass er Zeit seines Lebens mit einer Schuld gelebt hat, die eigentlich ein anderer, nämlich sein bester Freund und Quasi-Bruder hätte tragen müssen (einer der unglaublichsten Momente des Kinos, wie ich es kenne), so kommt "Flow Of Times" zu einem erfreulicheren Ende, denn die Botschaft des Albums ist eher die, nicht der Vergangenheit nachzuhängen und den Tag zu leben, so gut es eben geht. Eine Botschaft, die man sich selbst in diesen trüben Tagen gar nicht oft genug vergegenwärtigen kann.

Teil I "Memorial" beginnt mit einem fernen Gewitter im Hintergrund, eine eiserne Türe wird geöffnet, dann entwickelt sich aus einem fast hymnischen Intro ein rhythmisch geprägtes, treibendes Zusammenspiel von leicht Vintage behaftetem Keyboard und ausgeprägten Riffs ein stilistischer Mix, der zwischen melodiös zurückgenommenen Soli und den zugrunde liegenden Lines wechselt. Das klingt keinesfalls so düster, wie es das Thema zu vermitteln scheint. Die Musik hat durchaus etwas cineastisches, das Kopfkino wird in Gang gesetzt, bei einem Konzeptalbum sicher nicht ganz unbeabsichtigt. Und zum Abschluss darf es die Gitarre richtig krachenlassen. Der zweite Teil, "Wanderlust", bleibt in dem treibenden Fahrwasser seines Vorgängers und dient wie auch Teil III, "Neverland", dazu, die Erinnerungen an die gute Zeit des Paares aus der Sicht des Mannes zu beschreiben, der sich auf der Trauerfeier für seine Frau in seine Gedanken flüchtet. Hier klingen die verschiedenen Keyboards wirklich sehr stark an den Siebzigern orientiert, vereinzelt muss ich sogar an New Triumvirat denken, "Pompeii" war Klasse damals. Der Trend setzt sich im leicht jazzigen Intro zu "Neverland" fort, einer besonders beschwingten Nummer mit zwischenzeitlich coolem Groove, bevor die Dramatik des Geschehens mit einem symphonischen Ausklang ins Bewusstsein gerückt wird.

Der Mittelteil des Albums beginnt mit "Togetherness", elegant, beschwingt und voller reflektierter Emotion. Heikos hier zunächst zurückgenommene Stimme klingt anfangs fast ein wenig nach David Sylvian, doch der Song springt über ein quirliges, keyboardgeprägtes Break, nur um wieder zurückgezogen sanft auszupendeln. Aus dieser Harmonie entwickelt sich in "Nightmare" und "Addiction" die dunkle Seite einer Beziehung, in der es auch Zeit für Ängste und ungewollte Abhängigkeit gibt. In den kompositorischen Linien fühle ich mich hier wieder ähnlich wie bei den früheren Flower Kings. Die Rhythmuswechsel sind eher elegant und fließend, die Soli wagen sich nie allzu weit aus dem Kontext, egal ob auf den Tasten oder den Saiten.

Die dramatische Entwicklung der Geschichte beginnt in "Halloween", wo es zum Bruch des Paares kommt und Zuflucht zu Drogen gesucht wird. Das Stück bleibt aber in einem geschmeidigen Gewand und bietet schöne melodische Hooklines. Der gefällige Sound hat ein wenig populärmusikalisches Potential, wenngleich er kaum fürs Radio taugen würde, da die Struktur weniger als eigenständiger Song als eher im Gesamtkontext steht. Still und nachdenklich startet "Crime" in dem Moment auf dem Album, wo das Leben aus den Bahnen gerät. Eine fast ein wenig verklärte Frauenstimme untermalt den Augenblick, wenn der Protagonist von jenem Verbrechen erfährt, welches seine Frau aus dem leben reißt. Die Wucht dieses Schlages wird durch kraftvolle Riffs nahe gebracht, die sich mit stillen, reflektierten Passagen abwechseln. Ein schönes Keyboard-Solo im Saxophon-Sound und stille, besinnliche Streicher-Klänge variieren mit ausufernden Soli. An dieser Stelle ist der Kampf ums Überleben noch nicht verloren, doch wir wissen ja bereits, dass die Geschichte tragisch enden wird.

"Dreamer" steht für das Koma der Frau und bleibt musikalisch im Stil der voran gegangenen Nummern. Der gefällige Flow des Liedes und das unverkennbare Crescendo mögen vielleicht Hoffnung verheißen, der traurige Ausklang jedoch deutet bereits an, was in "Despair" zum Ausdruck gebracht wird. Der Song zeigt den Mann in tiefer Verzweiflung über den Verlust, sehr warmherzig inszeniert zwischen spärlicher Instrumentierung und einfühlsamen Gesang. Die Mainlines gehören zu den stärksten auf dem gesamten Album, sensibel, einprägsam und niemals trivial. Die Trauer unseres Helden wird hier genauso spürbar wie die des Komponisten. Sehr bewegend.

"Metamorphose" ist im Kontext natürlich eine Schlüsselnummer, da hier der Protagonist sozusagen seinen Weg findet, sich endlich mit dem Leben zu versöhnen. Ähnlich wie bei der Neal Morse Band finden wir hier besonders spannende und ausgeprägte Breaks, die den Sinneswandel des Mannes anschaulich interpretieren. Die düsteren Keyboard-Wände konkurrieren mit der Solo-Gitarre, die Rhythmik ist ausgeprägter und aggressiver als in den meisten Nummern des insgesamt ruhigeren Mittelteils.

Wie viel Gefühl in dieser Musik steckt, vermittelt das abschließende "Me And You In The Rain" mit echten Gänsehautmomenten. Heiko Ueberschaer informiert im Begleitmaterial darüber, dass während der Umsetzung des Projektes seine Eltern beide verstarben. Ein solch einschneidendes Erlebnis prägt, noch dazu im Angesicht eines Albums, wo es letztlich auch um den Tod zweier Menschen geht. Vielleicht erklärt das jenes einzigartig ernsthafte, aber eben doch so friedvolle Arrangement im "Flow Of Time". Der hinreißend schöne und würdevolle Abschluss mit seinem repetitiven Piano, den sanften Harmonien mit naturalistischen Sound-Sprenkeln und engelsgleichen Chorälen, nimmt dem Tod den Schrecken. Sehr treffend auch die retrogeschwängerte kurze Schweineorgel im Hintergrund, die den Rückblick in die Vergangenheit zu unterstützen trachtet. Der symphonische Ausklang leitet in ein fernes Gewitter, die Glocken begleiten auf dem Weg ins Licht.
Auch ich habe meine Eltern verloren und ich fühle mich gerade mit dem tröstlich friedfertigen Ausklang des Albums zutiefst mitgenommen und finde dort meine Gefühle wieder. Das ist sehr beeindruckend und berührend.

"Time Of Flow" ist durch und durch Konzeptalbum, die Stücke sollte man nicht einzeln aus dem Kontext reißen, das würde man in der klassischen Musik ja auch nicht tun. Wer solche Konzepte mag, die man früher oft auch als Rockopern bezeichnete, der wird seine Freude haben, denn die Komposition ist durchgängig und stimmig, die Qualität der beteiligten Musiker über alle Zweifel erhaben. Ich finde es sehr erfreulich, dass hier eine hoch dramatische und menschlich einnehmende Geschichte ohne Prog-typischen Bombast sehr sensibel und einfühlsam präsentiert wird, das macht den Handlungsstrang noch glaubhafter und authentischer.


Line-up Ueberschaer:

Heiko Ueberschaer (vocals)
Axel Köhnken (guitar)
Adam Holzman (keyboards)
Lars Lehmann (bass)
Kristof Hinz (drums, percussion)

Guests:
Martin Schnella (acoustic guitar)
Lennart Hinz (keyboards)
Rainald Menges (keyboards)

Tracklist "Flow Of Times"

  1. Heavens Gate I Memorial
  2. Heavens Gate II Wanderlust
  3. Heavens Gate III Neverland
  4. Togetherness
  5. Nightmare
  6. Addiction
  7. Halloween
  8. Crime
  9. Dreamer
  10. Despair
  11. Metamorphosis
  12. Me And You In The Rain

Gesamtspielzeit: 71:24, Erscheinungsjahr: 2022

Über den Autor

Paul Pasternak

Hauptgenres: Psychedelic Rock, Stoner Rock, Blues Rock, Jam Rock, Progressive Rock, Classic Rock, Fusion

Über mich

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