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V.A. / Ost-Kraut! Progressives aus den DDR-Archiven (1970-1975) Teil 1 – DoCD-Review

Ost-Kraut! Progressives aus den DDR-Archiven

»Unter dem Genre Krautrock wurde ab Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre die Rockmusik primär westdeutscher Bands eingeordnet, die teilweise auch international bekannt wurden. Allen klassischen Krautrockbands ist außer der geographischen Herkunft der Hang zur experimentellen, improvisationsgeprägten Rockmusik gemein« lässt uns Wikipedia.de wissen.

'Kraut'? 'Rock'? Beide Begriffe wurden in der DDR-Musikszene nicht verwendet. Und 'Bääänd' schon gleich gar nicht. In den 70er Jahren wurden Musik-Gruppen, die einen härteren Sound spielten, als 'Beat-Gruppe' tituliert, die eben Beatmusik präsentierten.
Und es gab viele Gruppen auf ostdeutscher Seite, die – vom Westen völlig unbemerkt – die sogenannte Rockmusik spielten, vorzugsweise progressiven Rock.

Man muss wissen, dass die Künstler samt Band hinter der Mauer eine staatliche Eignungsprüfung ablegen mussten, um als Berufsmusiker tätig sein und auch Geld verdienen zu können. Das setzte eine solide musikalische Ausbildung an der Musikhochschule samt dem Erlernen der entsprechenden handwerklichen Fähigkeiten voraus.
Wollte man als Laien- oder nebenberuflich tätiger Musiker auftreten und hatte keinen Abschluss vorzuweisen, mussten die zukünftigen Protagonisten eine Prüfung bestehen, die von einer Kommission des Bezirkskomitees für Unterhaltungskunst abgenommen wurde. Diese war – genau so wie eine möglichst korrekte politische Haltung, Voraussetzung um überhaupt eine Spielerlaubnis zu bekommen. Stimmte die Haltung nicht oder man coverte live mehr als 40 Prozent Songs aus dem 'kapitalistischen Ausland', war man ganz schnell 'weg vom Fenster', man bekam Spielverbot.

Deshalb war es üblich, neben den Coverversionen von westlichen Progressive Rock-Bands wie ELP, Alan Parsons Project oder Genesis überwiegend eigene, dazu deutsch gesungene Titel zu präsentieren. Doch keine Band der DDR benutzte jemals den Begriff 'progressiv'.
Aber auch in den ’sozialistischen Bruderländern' etablierte sich die Rock- bzw. Progressive Rock-Szene wie in Ungarn, Polen oder der ČSSR und war, was die technische Ausrüstung betraf, oftmals sogar viel weiter als ihre ostdeutschen Kollegen. Ihre Songs veröffentlichten diese Bands in der DDR für Aufnahmen und Live-Auftritte in der Regel in deutscher Sprache.

Für das Label Bear Family war es eine kleine Herausforderung, sich diesem Material anzunehmen. Unter dem Titel "Ost-Kraut! Progressives aus den DDR-Archiven (1970-1975)" liegt mir Teil 1 vor. Im 76-seitigen, sehr edlen, informativen und reich bebilderten Booklet wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Zusammenstellung kein 'Best of' sei. Es wird lediglich versucht darzustellen, welch »spannende Szene« jenseits der westlichen Mauer entstanden war.

Die DoCD-Box enthält 28 Songs, darunter teilweise noch nie auf Platte veröffentlichte Raritäten aus dem Deutschen Rundfunkarchiv, wie zum Beispiel »eine zu Unrecht in Vergessenheit geratene Perle des frühen DDR-Rock«, das Peter Holten Septett mit dem rockigen Fetzer "Weiter, weiter", mit dem die erste CD dieser Compilation eröffnet wird.
Des weiteren finden wir Die Skalden ("Kennst du das nicht", "Ein ferner Punkt") aus Polen, die neben ihren Landsleuten, den Roten Gitarren ("Wachsein im Dunkel"), als erste polnische Gruppe seit 1965 in die Ost-Berliner Rundfunkstudios zu Aufnahmen eingeladen wurden. Die Skalden traten nicht nur im Ostblock, sondern auch in der BRD, Kanada und den USA auf.
Ein weiterer polnischer Vertreter ist die Band Mira Kubasinska & Breakout mit dem Song "Ich hab die Sonne".

Aus Ungarn kommen die auch im Westen des Landes bekannten und großartigen Omega ("Zerbrechlicher Schwung") sowie die eigentlich eher aus dem Schlagerbereich bekannte Kati Kovács ("Wind, komm, bring den Regen her"), die jedoch immer wieder Ausflüge ins Rock-Metier unternahm.
Hungaria ("Die Farben der Natur") war ursprünglich eine Psychedelic Rock-Band, identifizierte sich aber mehr und mehr an den Beatles.
Aus dem klassischen Rock kommen Illés ("Hier stand die Sonne hoch"), die ihre Kompositionen nach und nach mit Beat-, Folk- und Pschedelic-Elementen anreicherten und hier sogar eine Sitar erklingen lassen.

Für die ČSSR finden wir folgende Vertreter: Da wäre Pavol Hammel & Prudy ("Schluss mit den Märchen"), die nach dem Ende des Prager Frühlings mit ihrer "Ballade vom traurigen Jan" der Zensur unterworfen wurden: Im Januar 1969 hatte sich der Student Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz aus Protest gegen die sowjetische Invasion öffentlich verbrannt.
Collegium Musicum ("Hommage à Johann Sebastian Bach") waren die erste Art Rock-Band der ČSSR und das slowakische Gegenstück zu Keith Emersons The Nice. Marián Varga (auch Keyboarder bei Prudy) bot mit seinem Spiel eine Mischung aus Schizophrenie und Exzentrik, was man aber nur auf den heimatlichen Alben zu hören bekam. Dem deutschen Nachbarländle wurde nur die 'abgespeckte' Version zugemutet.
Blue Effect ("Clara") – ursprünglich Special Blue Effect – mussten ihren Namen ändern, da dieser der staatlichen Obrigkeit zu englisch war. Zu Hause nannten sie sich M efekt, im Ausland blieb der Name Blue Effect. Die Band zelebriert einen abgedrehten Free Jazz Rock.

Die bekanntesten Vertreter aus der ehemaligen DDR sind wohl die Puhdys mit "Steige nicht auf einen Baum" – einer sehr Uriah Heep-lastigen Nummer.
Wir hören Electra mit dem monumentalen "Tritt ein in den Doom" oder Jürgen Kerth, der eigentlich eher eine Melange aus Blues, Jazz, Rock und Swing spielt, hier mit seinem völlig aus der Reihe tanzenden Titel "Nacht unterwegs".
Weitere erstklassige Gruppen sind Panta Rhei mit Herbert Dreilich (später Karat) als Sänger sowie Veronika Fischer (vormals Stern Combo Meißen, später solo), die hin und wieder den zweiten Gesangspart übernahm, welche sehr anspruchsvollen, teils sperrigen Jazz Rock spielten. Oder auch die am meisten durch die sozialistische Diktatur gebeutelte Klaus Renft Combo, die später mit Auftrittsverboten, Haft und Abschiebung in den 'Westen' zu kämpfen hatten. Sie wurden ihrem Nimbus der Unangepasstheit in ihren Songtexten jederzeit gerecht.

Ähnlich erging es der Bürkholz Formation, die damals zum heißesten Live-Act der DDR zählten. Sie bekamen nach nicht einmal einem Jahr ihrer Gründung Auftrittsverbot, was logischerweise ihr Ende bedeutete. Grund war eine Fan-Randale bei einem Konzert 1973 in Radeberg (es sollen Ordner und Volkspolizisten von alkoholisierten Fans angegriffen worden sein). Dieser Vorfall wurde der Band angelastet, obwohl sie schon im Hotel war. Sänger Hans-Jürgen Beyer avancierte danach zum erfolgreichen Schlagersänger und Bandgründer Thomas Bürkholz spielte bei Set.

Ob nun bekannt wie Lift, Stern-Combo Meißen oder Bayon, oder weniger bekannt wie Joco Dev Sextett, Ekkehard Sander Septett oder Set, das Label legt mit dieser Box einen tollen Querschnitt aus fünf Jahren Musikgeschichte der ehemaligen DDR vor. Damit bekommt der sogenannte Ostrock endlich eine eindrucksvolle aber auch wohlverdiente Würdigung, zumal dieser nach wie vor ein Nischendasein fristet. In dem liebevoll und mit viel Akribie gestaltetem Booklet, für das allein sich der Kauf des Doppelalbums lohnt, kann man ausgiebig stöbern und erfährt dabei so ganz nebenbei noch sehr viel Informatives. Für ihre ausführlichen und edlen Booklets ist die Bärenfamilie ja berühmt.
Alle Songs wurden von dem Fachmann Marcus Heumann nicht nur ausgewählt und zusammengestellt, sondern auch von ihm soundmäßig einer Nachbearbeitung unterzogen.

Musik kennt keine Grenzen, deshalb auch meine Kaufempfehlung für Ost- und Westdeutsche Musikfans. Und ab diesem Monat wird diese Zusammenstellung auch weltweit im Handel erhältlich sein!
Ich bin nun gespannt auf Teil 2!


Trackliste "Ost-Kraut!":

CD 1:

  1. Peter Holten Septett – Weiter, weiter
  2. Wir – Zeit
  3. Die Skalden (Skaldowie) – Kennst du das Nicht
  4. Bayon – Input
  5. Rote Gitarren – Wachsein im Dunkel
  6. Ekkehard Sander Septett – Kein Märchen
  7. Puhdys – Steige nicht auf einen Baum
  8. Joco Dev Sextett – Stapellauf (Erstfassung)
  9. Pavol Hammel & Prudy – Schluss mit den Märchen
  10. Uve Schikora und Seine Gruppe – Deine Augen
  11. Bürkholz Formation – Sei kein Vulkan
  12. Omega – Zerbrechlicher Schwung
  13. Breakout – Ich hab die Sonne
  14. Collegium Musicum – Hommage à Johann Sebastian Bach

CD 2:

  1. Electra Combo – Tritt ein in den Dom
  2. Nautiks – Wir gehen am Meer
  3. Lift – Roter Stein
  4. Blue Effect – Clara
  5. Klaus Renft Combo – Was mir fehlt
  6. Kati Kovacs und die Juventus Gruppe – Wind, komm, bring den Regen her
  7. Panta Rhei – Gib dir selber eine Chance
  8. Hungaria – Die Farben der Natur
  9. Die Skalden (Skaldowie) – Ein ferner Punkt
  10. Set – Eisen
  11. Illés – Hier Stand die Sonne hoch
  12. Klosterbrüder & Stern Combo Meißen – Gedanken an Fusion: Aktivität
  13. Jürgen Kerth – Nacht unterwegs
  14. Modern Septett Berlin – Sagen

Gesamtspielzeit: 71:33 (CD1), 68:26 (CD2), Erscheinungsjahr: 2022

Über den Autor

Ilka Heiser

Hauptgenres: Classic Rock, Blues Rock, Heavy Rock
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Mail: ilka(at)rocktimes.de

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