Bereits im September 2022 hatte ich mich mit Teil 1 der Ost-Kraut-Veröffentlichung befasst, die die Jahre von 1970 bis 1975 umfasste. Dazu gab es von mir einen kleinen Abriss zur DDR-Musikgeschichte, den ich hiermit fortsetze:
Überschattet wurden die Jahre ab 1976 zum einen von der Ausbürgerung Wolf Biermanns, zum anderen von Spielverboten und erzwungenen Bandauflösungen.
Nachdem Biermann »wegen grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten« im November 1976 nach einer Konzertreise in der Bundesrepublik nicht mehr in die DDR einreisen durfte, verfassten Künstler und Schriftsteller an die DDR-Regierung eine Resolution, die aber erfolglos blieb. Daraufhin begann ein regelrechtes Mobbing gegen die Protestler, die am Ende nur noch einen Ausweg sahen, nämlich die DDR gen Westen zu verlassen.
1975 erhielt die Gruppe Renft wegen »Beleidigung der Arbeiterklasse« Spielverbot. Deren Bandmitglieder Gerulf Pannach (Texter) und Christian Kunert (Keyboard) wurden im November 1976 von der Stasi verhaftet. Nachdem sie neun Monate abgesessen hatten, wurden die beiden unter Androhung von langen Haftstrafen gezwungen, aus dem Land auszureisen.
Andere Bands wie City, Karat oder die Puhdys konnten jedoch auch im 'Westen' auf sich aufmerksam machen.
Obwohl nach wie vor misstrauisch von den DDR-Oberen beäugt, wurden die Haare der Musiker immer länger und die Jeans derweil ebenfalls salonfähig.
Mittlerweile entstand auch im Arbeiter- und Bauernstaat ein völlig neues Musik-Genre unter dem Begriff Electronics,. inspiriert vermutlich durch den legendären Auftitt von Tangerine Dream 1980 im Palast der Republik. Typische Vertreter sind Pond und Key, aber auch Reinhard Lakomy.
Und selbst die Neue Deutsche Welle ging nicht ganz spurlos an den Bands im 'Osten' vorbei, was aber weniger wohlwollend von den jungen Zuhörern aufgenommen wurde.
Unterdessen rollte eine weitere Ausreisewelle Richtung Westen: Veronika Fischer, Hansi Biebl, Hans-Joachim 'Neumi' Neuman (Karat), um nur einige zu nennen, kehrten der DDR den Rücken.
Andere aber blieben, komponierten Songs, nahmen diese auf Platten auf und tourten durch das ’sozialistische Vaterland'. Ihre Texte waren oft genug mit einem Augenzwinkern geschrieben, aber der 'gelernte DDR-Bürger' verstand die versteckten Anspielungen.
Nun hat die Bärenfamilie wiederum in den DDR-Archiven gekramt und Teil 2 des Ost-Krauts zusammengestellt. Wiederum 'zieren' insgesamt 28 Songs das Doppelalbum. Darauf vertreten sind die in Ost und West seit Jahren bekannten Karat mit dem wohl weniger bekannten Song "Das Monster" und City ("Der Tätowierte", "Aus der Ferne").
Eröffnet wird der Ost-Kraut-Reigen mit der Gruppe Magdeburg (ehemals Die Klosterbrüder). Die Band löste sich nach jahrelangen Querelen mit den DDR-Kulturverantwortlichen auf. Ihr erster Drummer verschwand bereits 1978 über Ungarn in den Westen. Er trommelte später für Herbert Grönemeyer.
Die Gruppe Wir versuchte immer wieder den Spagat zwischen Hard Rock, Pop und Schlager, was nicht gut gehen konnte. Ihr Song "Eisberg" jedoch ist ein relativ überzeugendes Hard Rock-Stück.
Die Stern-Combo Meißen ist gleich mit zwei Stücken vertreten: "Der Alte" (erstaunlich, dass der Text nicht der Zensur zum Opfer fiel) auf CD 1 sowie "Licht in das Dunkel" auf CD 2. SCM gehören neben Electra mit dem hier zu hörenden Prog-Titel "Einmal unsichtbar sein" und Lift mit "Große Landschaft" zu den bedeutendsten Art Rock-Bands. Lift hatten übrigens 1978 zwei Todesfälle zu beklagen: Sänger und Mundharmonikaspieler Henry Pacholski sowie Gründungsmitglied und Bandleader Gerhard Zachar verloren ihr Leben während einer Tour in Polen bei einem Autounfall.
Wir hören weitere Bands wie die vom Blues, Folk, Rock und Klassik beeinflussten Bayon ("Haus der Kindheit" auf CD 1 und Overtüre aus "Die Schlacht"/"Der Traktor" auf CD 2) sowie die sehr synthesizerlastigen SBB aus Polen, oder die doch sehr nach Deep Purple klingenden Prinzip mit "Sieben Meter Seidenband".
Passion gehören zu den Bands, die in ihrer Musik solche Instrumente wie Vibrafon, Blockflöte oder Violinen einsetzen. Schön zu erkennen bei dem hier zu hörenden "Morgendämmerung/Herzallerliebstes Mädel". Eine Melange aus völlig schrägen Tönen, dazu Elemente aus der Renaissance sowie der modernen Rockmusik lassen daraus allerfeinsten Art Rock erwachsen.
Die aus einer ellenlangen Liste ehemaliger Bandmitglieder bestehende Modern Soul Band haben mit dem Instrumental "Meeting" ein total verkopftes, aber geniales Jazzstück erschaffen.
Kleeblatt brillieren mit einem wunderschönen, sehr filigranen Instrumental, dem für einen Film komponierten "Kinderlied".
Die ZOE Band erzählt mit "Himalaja" die Geschichte der Besteigung dieses höchsten Berges, Karussell präsentieren uns das sehr düstere "Entweder oder" und Pond, die CD Nr. 2 eröffnen, das spacig abgefahrene "Planetenwind".
Reform wurde von dem ehemaligen Klosterbrüder-Gitarristen Jörg 'Matzke' Blankenburg gegründet. Stephan Trepte (ehemals Lift und Electra) übernahm 1977 das Mikrofon als Sänger, spielte Keyboard und war gleichzeitig Komponist. Ein Vergleich seiner Vocals zu frühen Aufnahmen bei Electra wie den Titeln "Nie zuvor" oder auch "Tritt ein in den Dom" (letzterer auf "Ost-Kraut!" Teil 1 enthalten) zeigt mit erschreckender Deutlichkeit bei dem Song "Stadtgesicht", was permanenter Alkohol- und Tabak-Missbrauch anrichten können.
Ein weiteres, ebenfalls auf CD 2 enthaltenes Reform-Stück ist "Rock’n’Roll (hier ist der 'Name' Programm), gesungen jedoch von dem Gitarristen Günter 'Grete' Fischer.
Die Gruppe Jürgen Kerth bluest sich durch "…die alten Tage", Transit durchlebt eine "Sturmflut", Dina Strat & Kleeblatt lassen den Drachen fliegen und 4 PS haben "Träume wie Segel".
Und Gong, die zu DDR-Zeiten keine Platten veröffentlichen durften, erleben jetzt mit dem Song "Mammon" auf "Ost-Kraut!" eine nachträgliche Premiere.
Einen Track haben wir noch, der irgendwie auf lustige Art und Weise auf sich aufmersam macht: Das sind Bernd Dewét & Horst Krüger mit der witzigen Nummer "Der Rock’n’Roll King aus dem Thüringer Wald". Bernd Bornschein aka Bernd Dewét (†27.07.2006) war bereits in den 80er Jahren als 'lustiger Vogel mit Thüringer Dialekt' in der Rockmusik bekannt, ob nun in der kurzzeitigen Horst Krüger Band oder bei der Spaßtruppe Winni II.
In Anlehnung an die Kompositionen des Volksmusikers Herbert Roth, der mit dem "Rennsteiglied" die inoffizielle Thüringer Hymne geschrieben hatte, verfasste Dewét den "Rock’n’Roll King". Damit wollte er den Volksmusiker auf die Schippe nehmen. Außerdem war Roth dafür bekannt, seine Lieder in Hochdeutsch zu singen, was bei seinen Kritikern auf Unverständnis stieß. Ein Grund für Dewét, seinen Song im schönsten Thüringer Dialekt zu präsentieren, was die Rezensentin als gebürtige Thüringerin höchst amüsant findet.
Alles in allem eine dicke Kaufempfehlung, egal ob man mit Musik aus dem Osten 'groß' geworden ist oder mal über den Tellerrand schauen möchte.
Tracklist "Ost-Kraut!":
CD 1:
- Magdeburg – Alte Bänder
- Wir – Eisberg
- Stern-Combo Meißen – Der Alte
- Bayon – Haus der Kindheit
- Karat – Das Monster
- SBB – 2’10
- Prinzip – Sieben Meter Seidenband
- Passion (Christliche Musik) – Morgendämmerung / Herzallerliebstes Mädel
- Kleeblatt – Kinderlied
- Zoe Band – Himalaja
- City – Der Tätowierte (Single-Version)
- Karussell – Entweder oder
- Electra – Einmal unsichtbar sein
- Modern Soul Band – Meeting
CD 2:
- Pond – Planetenwind
- Stern-Combo Meißen – Licht in das Dunkel
- Reform – Stadtgesicht
- City – Aus der Ferne
- Bernd Dewét & Horst Krüger – Der Rock’n’Roll King aus dem Thüringer Wald
- Gruppe Jürgen Kerth – Auf die alten Tage
- Bayon – Ouvertüre aus "Die Schlacht" / "Der Traktor"
- Transit – Sturmflut
- Lift – Große Landschaft
- Gong – Mammon
- Stern-Combo Meißen – In den Kosmos
- Dina Strat & Kleeblatt – Drachenfliegen
- Reform – Rock’n’Roll
- 4 PS – Träume wie Segel
Gesamtspielzeit: 72:00 (CD 1), 78:33 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2022 (1976-1982)
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