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V.A. / Tell! – The Musical – 2CD-Review

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Sein "Gitarrenlied" war es Udo Lindenberg wert, das Stück 1998 auf die CD "Raritäten… & Spezialitäten" zu pressen. Offiziell dagegen war dem Panikrocker der Schlager bis heute wesensfremd. Dem Begleitmaterial zu "Tell! – The Musical" zufolge soll er einst gesagt haben: »Wenn ich Schlager höre, kriege ich Pickel«. Deshalb war er zu Zeiten von Dieter Thomes Heck nie in der ZDF-"Hitparade" zu sehen.

Dennoch folgte Udo Lindenberg 1977 dem Ruf von Autor Beat Hirt und Musiker Tommy Fortmann und steuerte auf "Tell! – The Musical" nicht nur das erwähnte "Gitarrenlied" bei. Darin heißt es Udo-typisch: »Ich spiel' Gitarre nur so nebenbei, die Harmonien sind nicht so lupenrein. Doch das macht gar nichts, ich spitz' die Finger an und schalte meine Brüllbox ein«.
Die Schweizer Hirt und Fortmann gewannen nicht nur Udo Lindenberg für die Produktion des Musicals, sondern darüber hinaus Alexis Korner, Sängerin Jackie Carter, Su Kramer, Romy Haag sowie Schlagerstar und Teenie-Idol Jürgen Drews. Korner (1928–1984), der ausgezeichnet Deutsch sprach, galt nicht nur als Urgestein des englischen Rhythm’n’Blues. Der Musiker prägte in den 1970er Jahren erheblich die deutsche Bluesszene mit.

Als Udo Lindenberg mit Alexis Korner die Geschichte über den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell vertonte, befanden sich beide Künstler im kreativen Hoch. Lindenberg hatte im gleichen Jahr gerade seine LP "Panische Nächte" veröffentlicht und war damit Anfang 1977 live unterwegs. Über die Teilnahme an der Musical-Produktion schweigen sich aber sowohl die offizielle Homepage des Wahl-Hamburgers als auch die Enzyklopädie Wikipedia aus.

Unter der Regie von Produzent Dieter Dirks übernahm Blues-Legende Alexis Korner die Rolle des Landvogts Gessler. Jürgen Drews schlüpfte in die Titelrolle. Su Kramer, Jackie Carter, Romy Haag und Udo Lindenberg waren jeweils solistisch auf einzelnen Liedern zu hören.

2020 liegt das Musical im unverwechselbaren Sound der 1970er Jahre erstmals in digitalisierter Form vor. Als Bonus gibt es auf der zweiten CD eine leicht rockigere Alternativ-Version des kompletten Programms. Die Stücke dieser Zugabe waren bisher noch nicht auf einem Medium veröffentlicht worden.

Die Produktion ist zweifelsfrei ein Stück Zeitgeschichte und eine musikalische Zeitreise zurück in die 1970er Jahre. Der Mix aus Rock, Schlager, und Disco-Sound erschließt sich nicht vollständig beim ersten Hören. Die Vertonung des Dramas nach Friedrich von Schiller, der das Bühnenwerk am 17. März 1804 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt hatte, ist ein musikalisches Dokument von hohem Unterhaltungs- und Erinnerungswerk. Beim Hören darf ruhig einmal geschmunzelt werden, wenn Bluesgröße Alexis Korner im "Gesslerlied" vom Landvogt-Dasein singt: »Landvogt sein, jawohl, macht wenig Spaß in diesem Land«.

Während mich der Orchester-Auftakt mit der Wilhelm Tell-Melodie ein wenig an das Hörspiel "Peter und der Wolf" von Sergei Prokofjew erinnert, kommt das nachfolgende Chorlied "Sag uns" an die The Les Humphries Singers heran, in deren Reihen Jürgen Drews ebenfalls stand. Drews ist im ergreifenden "Liebeslied" im Duett mit Jackie Carter zu hören. Jackie Carter ist der Künstlername der Sängerin Jacqueline Nemorin, die von 1974 bis 1979 zur Silver Convention gehörte. Deren größter Hit war 1975 "Fly, Robin, Fly". Als liebenswerte Schnulzen im Reigen der 16 Lieder gehen Su Kramers "Helden" und Jackie Carters "Unsere Welt will immer nur Gewinner sehen" durch. Doch genau das macht den Reiz dieser Platte mit recht unterschiedlich gearteten Liedern aus. Hörenswert sind Romy Haag mit dem Chor der Männer in "Weiberrock" und das Duett "Hallo Uri Uno!" mit Jürgen Drews und Udo Lindenberg – Augenzwinkern stets inklusive. Alexis Korners "Schüsse" ist ambitionierter Rock, der gut in die heutige Zeit passen würde.

Illustre Gäste gab es nicht nur bei den Gesangparts. Die Sessionmusiker kamen aus der ersten Reihe deutsch-schweizerischer Rockprominenz: Armand Volker (Produzent und Arrangeur u.a. bei Johnny Logan und Nena) spielte Gitarre und Bass, ebenso wie Frank Diez (Atlantis, Peter Maffay, Eric Burdon u.a.). Zusätzliche Gitarreneinspiele kamen von Uli Jon Roth (Scorpions). Am Schlagzeug saß Curt Cress (Klaus Doldingers Passport, Atlantis, Snowball), während Philippe Kienholz (Schweizer Classic-Rock-Band Tea) und Kristian Schultze (Klaus Doldingers Passport, Niagara, Snowball) die Keyboards zum Klingen brachten.

"Tell! – The Musical" erlebte am 31. März 1977 seine Premiere. "Tell!" war also nicht nur auf Vinyl zu hören. Das Musical war gleichzeig ein Bühnen-Projekt.


Mitwirkende Musiker:

Udo Lindenberg (vocals)
Alexis Korner (vocals)
Jürgen Drews (vocals)
Su Kramer (vocals)
Jackie Carter (vocals)
Romy Haag (vocals)
Armand Volker (guitars, bass)
Frank Diez (guitars, bass)
Uli Jon Roth (guitars)
Curt Cress (drums)
Philippe Kienholz (keyboards)
Kristian Schultze (keyboards)

Gäste:
Original Red Apple Orchestra

Tracklist "Tell! – The Musical"

CD 1:

  1. Orchester – Intro [Wilhelm Tell-Melody] (1:04)
  2. Chor – Sag Uns (2:12)
  3. Udo Lindenberg – Gitarrenlied (3:38)
  4. Jürgen Drews & Chor – Amigo (2:45)
  5. Su Kramer – Helden (3:02)
  6. Chor – Rock Tell (2:37)
  7. Jürgen Drews – Tellenlied (3:10)
  8. Alexis Corner & Chor – Schüsse (2:25)
  9. Jackie Carter & Chor – Unsere Welt will immer nur Gewinner sehen (2:43)
  10. Orchester – Tells Flucht (3:11)
  11. Udo Lindenberg, Jürgen Drews & Chor – Tell, Was Wär' Passiert (2:46)
  12. Romy Haag & Chor der Männer – Weiberrock (2:46)
  13. Jürgen Drews, Jackie Carter – Liebeslied (4:33)
  14. Alexis Korner – Gesslerlied (3:15)
  15. Jürgen Drews, Udo Lindenberg – Hallo Uri Uno! (2:17)
  16. Udo Lindenberg, Alexis Corner, Jackie Carter, Romy Haag & Choor – Wilhelm Tell (4:06)

CD 2 (Alternative Studio Version):

  1. Chor – Sag Uns [Alternative Version] (2:07)
  2. Udo Lindenberg – Gitarrenlied [Alternative Version] (3:26)
  3. Jürgen Drews & Chor – Amigo [Alternative Version] (2:50)
  4. Su Kramer – Helden [Alternative Version] (3:05)
  5. Chor – Rock Tell [Alternative Version] (4:08)
  6. Jürgen Drews – Tellenlied [Alternative Version] (3:07)
  7. Alexis Korner & Chor – Schüsse [Alternative Version] (2:44)
  8. Jackie Carter & Chor – Unsere Welt will immer nur Gewinner sehen [Alternative Version] (3:07)
  9. Orchester – Tells Flucht [Alternative Version] (2:16)
  10. Udo Lindenberg, Jürgen Drews & Chor – Tell, was wär' passiert [Alternative Version] (3:26)
  11. Romy Haag & Chor Der Männer – Weiberrock [Alternative Version] (3:05)
  12. Jürgen Drews, Jackie Carter – Liebeslied [Alternative Version] (4:34)
  13. Alexis Korner – Gesslerlied [Alternative Version] (3:07)
  14. Jürgen Drews, Udo Lindenberg – Hallo Uri Uno! [Alternative Version] (1:56)
  15. Udo Lindenberg, Alexis Corner, Jackie Carter, Romy Haag & Choor – Wilhelm Tell [Alternative Version]  (3:48)

Gesamtspielzeit: 45:32 (CD 1), 45:04 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Mario Keim

Musikstile: Heavy Rock, Rock, Deutschrock, Hard Rock
Marios Beiträge im RockTimes-Archiv

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