Freunde von Van der Graaf Generator erleben im Herbst 2021 ein Flashback-Feeling der besonderen Art. Zum einen erscheint das komplette Paket "The Charisma Years 1970-1978" als Box, jedes einzelne Werk ausgestattet mit unveröffentlichtem Material und mit jeweils dem Original-Mix, einem neuen Stereo- als auch einem Surround-Sound Remix. Und für diejenigen, die sich nicht das gesamte Programm geben möchten, gibt es die ersten vier Alben auch einzeln in einer 2 CD plus 1 DVD-Version, ausgestattet mit den gleichen technischen Merkmalen wie die große Box. Wie schön, dass die mir persönlich am nächsten Alben der Band dabei enthalten sind.
Van der Graaf Generator wurden 1967 in Manchester gegründet und stehen für einen besonders komplexen, sperrigen Progressive Rock, der zum einen von der ungewöhnlichen Kombi aus Orgel und Saxophon lebt, die beide für die Ausgestaltung der Harmonien stehen (Saxophon wird ja ansonsten meist nur als Solo-Instrument verwendet), während auf Gitarrenklänge weitgehend verzichtet wird. Dazu die charismatische und exorbitant vielseitige Stimme Peter Hammills, der in seinen Texten die wahrhaft dunklen Seiten der menschlichen Seele auslotet und die komplette Klaviatur des Gesangs auslebt, von sanften Passagen bis hin zu hysterischem Geschrei.
Wenn der große dünne Mann auf der Bühne steht, wirkt er eher introvertiert, freundlich und zurückhaltend. Doch wie er die dunklen Gefühlsregungen der mitunter wild-chaotischen Songparts durchlebt und zum Ausdruck bringt, gehört zu dem Beeindruckendsten und Extrovertiertesten, was ich jemals live auf der Bühne gesehen habe. Dass die Band in solchen Passagen zu teilweise kakophonischen, fast Free Jazz-artigen Ausbrüchen kommt, ist einfach nur folgerichtig. Solche Musik ist anstrengend zu hören, man muss sich darauf einlassen können. Aber dann wird man belohnt.
So lassen sich die beiden Alben "H To He Who Am The Only One" und "Pawn Hearts" sicher zu den düstersten Werken der Band zählen. David Jackson spielt hier zusätzlich zum Saxofon die Flöte und in diesen Passagen finden sich ein paar Parallelen zu den frühen Werken von Genesis. Ansonsten verbieten sich weitere Vergleiche fast zwangsläufig, denn der Sound von VDGG war schon damals absolut einzigartig und autark. Nächste Verwandte dürften King Crimson sein, das Line-up wird uns in dieser These bestätigen. Heute, nach all den Jahren, kann man eher feststellen, dass andere Bands sich immer wieder auf die Mannen um Peter Hammill bezogen, die ihrer Zeit vermutlich ein Stück weit voraus waren. In der dritten Nummer "The Emperor In His War-Room" gibt der King Crimson-Gitarrist Robert Fripp einen Gastauftritt, es wird nicht sein letzter sein bei VDGG. Das Original stammt aus dem Jahr 1970 und war seinerzeit das dritte Album der Band.
"Killer" beginnt eigentlich ganz lässig, mit einem coolen Groove, doch Peter setzt gleich Akzente, die einen rausholen aus dem Wolkenkuckucksheim, der Text tut sein Übriges. Hier geht es um irre Triebe, die uns Angst machen wollen und können. Kraftvolle Energie herrscht um uns und die ersten Hooks haben fast ein wenig vom Canterbury Sound, der selbst gerade in den Kinderschuhen steckte. Alles noch recht proggig, bis zum ersten Sax-Solo. Free Prog als Gegenpart zum Free Jazz? Diese Spielart ist aber meines Wissens nie definiert worden. VDGG interessierten sich nicht für Sparten oder Grenzen, sie sahen es als ihren Job an, diese aufzubrechen. So zu verstehen ist auch der Übergang zu "A House Of No Door", eine depressive Ballade über Einsamkeit und Entfremdung. Peter hält sich außergewöhnlich zurück, verkörpert Bedrückung und Schmerz, dass es selbst dem Zuhörer weh tut. Wahnsinn, wie sehr ein Künstler seine Seele anderen Menschen öffnen, wie er in Rollen schlüpfen und diese leben kann. Rollen oder eigene Erfahrung? Gut, dass wir es nicht wissen.
"The Emperor In His War Room" nimmt ein wenig von dieser Melancholie auf, geht aber in eine eher verträumte und nicht so depressive Stimmung ein. Wie schon erwähnt, darf Robert Fripp hier mit seiner Kunst den Song veredeln, spielt aber mit großem Understatement. Auf der Ursprungsversion, die im Bonus-Material vorliegt, fehlt Robert, die hat VDGG allein eingespielt und auch Peter wirkt ein wenig defensiver. Insgesamt repräsentiert diese Nummer trotz aller Schrägheit in dem korrelierenden Solo aus Gitarre und Saxofon eine vertrautere Songstruktur, doch Peter ist niemals gewöhnlich, er dominiert auch hier über den instrumentalen Wellen.
"Lost" will da offensichtlich entgegenhalten und bietet schon zu Beginn sperrige Hooks und Breaks. Es entwickelt sich im Mittelteil eine Kette riffiger, repetitiver Passagen – mit Riffs von Orgel und Saxofon. Hieraus entwickelt Peter dramatische Lyrics, kulminierend in seinem sich wiederholenden »I love you«, was nicht trivial, sondern zutiefst bewegend wirkt. Peter Hammill kann Stimmungen produzieren wie kaum ein anderer, ein Magier vor dem Mikrofon, für den der Begriff Leidenschaft eigentlich neu erfunden werden muss.
Und zuletzt "Pioneers Over C" mit seinem spacigen Opening, aus dem sich schöne Hooklines kristallisieren. Die Struktur der Breaks erinnert mich ein wenig an Genesis, für die Ausgestaltung der Harmonien kann man das sogar ein Stück weit mittragen, wenn im Hintergrund eine träge Gitarre begleitet. Aber auch der Bass ist hier dominanter als zuvor, die Saiten nehmen einen größeren Anteil am Song als irgendwo sonst auf dem Album. Im Mittelteil, besonders wenn uns die Flötentöne heimsuchen, bekommt die Nummer einen unerwarteten psychedelischen Touch, so als ob Canterbury sich ein wenig näher an den Jazz heranwagt, befeuert von ein wenig Sweet Smoke. Man findet aber zurück zu den klaren Hooks aus dem ersten Teil. Das Stück nimmt immer mehr Fahrt auf, doch mit einem letzten wirren Gebläse endet das grandiose Werk unvermittelt.
Nein, die Musik von VDGG ist nichts für Romantiker oder Freunde des Neo Prog. Eine Musik, die ganz bewusst so tief in die Wirrungen der menschlichen Seele eintauchen möchte, kann zwangsläufig nicht gängig sein. Peter Hammill war und ist der Großmeister der Ängste und die ungewöhnliche Instrumentierung von VDGG war perfekt dazu geeignet, diese Eigenschaft zu untermalen. Damit haben sie Standards gesetzt und viele inspiriert.
Die DVD beinhaltet alle drei Versionen (allerdings ohne die Bonus-Nummern), Original-Mix, Stereo-Remix und vor allem den Surround-Sound für all jene, die entsprechendes technisches Equipment daheim haben. Das Haus Pasternak gehört leider nicht dazu, so dass mir dieses gänzlich neue Hörerlebnis vorläufig noch verborgen bleibt. Vielleicht lade ich mich demnächst mal bei entsprechenden Freunden ein.
Vor uns liegt ein sensibel behandeltes, klassisches Werk auf dem höchst möglichen Level, das moderne Technik aus Bändern von vor mehr als fünfzig Jahren herausholen kann. Für Fans ein Wahnsinn und für Neugierige die bestmögliche Gelegenheit, mit dieser schwierigen und doch so faszinierenden Musik in Kontakt zu kommen. Ein Meilenstein für alle Archive guter Rockmusik.
Line-up Van der Graaf Generator:
Peter Hammill (vocals, guitar, piano – #2)
Hugh Banton (organ, piano, bass – #2,5)
David Jackson (saxophone, flute)
Nic Potter (bass – #1,3,4)
Guy Evans (drums)
Guest:
Robert Fripp (guitar – #3)
Tracklist "H To He Who Am The Only One" CD 1, 2 und DVD:
- Killer
- House With No Door
- The Emperor In His War Room
- Lost
- Pioneers Over C
- Killer (first version – Bonus Track)
- The Emperor In His War Room (first version – Bonus Track)
- Killer (BBC Radio One 'Top Gear' Session 12.10.1970 – Bonus Track)
- Lost (BBC Radio One 'Top Gear' Session 12.10.1970 – Bonus Track)
[Die Bonus Tracks 6 – 9 sind nur auf der Original-Mix-Version, CD 1 enthalten]
Gesamtspielzeit: 82:52 (CD 1), 47:23 (CD 2), 143:00 (DVD), Erscheinungsjahr: 2021 (1970)
3 Kommentare
Manni
16. Oktober 2021 um 20:37 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Also ich muss zugeben, 1970 als 15-jähriger Radio-Süchtiger noch nichts von VGDD gehört oder gewußt zu haben. Aber immerhin schon von Gentle Giants erstem Album via ÖRR (damals im „Pop Shop“-Format beim ebenso damaligen SWF). Und nur Monate später auch die zweite GG- Platte „Acquiring The Taste“. Die haben mich zum Prog-Fan gemacht. Auch King Crimsons „At The Court Of The Crimson King“ überzeugte. Genesis – deren ersten beiden Platten gingen mangels – hmm? Qualität? – einfach unter, waren erst Ende 1971 – also deutlich später – mit „Nursery Cryme“ ein erstes Thema .
Als ich VDGG Jahre später – 1975 als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr durch einen Stubenkameraden – zum ersten Mal hörte (war genau diese hier beschriebene Platte) … das war nichts für mich ist auch durch Jahrzehnte nie ein Klang geworden, mit dem ich anfreunden konnte. Sicherlich sehr hochwertige Musik, aber es muss den Hörer auch packen. Das haben sie bei mir nicht geschafft.
Hab es auch letztens noch mal mit den hoch gepriesenen „Rockpalast“-Sachen probiert. Aber nein, geht nicht. Nicht für mich.
Verglichen mit den 6 bis 7 Platten, die ich von VDGG kenne, ist Gustav Mahlers 5. Symphonie – komponiert zwischen 1901 und 1902 – reinstes Heavy Metal an Klangmacht und Emotionen!
PS: Den aktuellen ÖRR verachte ich nur noch und das hat nix mit Musik zu tun…
Gretchen Pasternak
16. Oktober 2021 um 23:54 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Wow!
Manni mag VDGG nicht und hört lieber Mahler.
Na dann, nur zu. Ist sein gutes Recht und gar keine schlechte Wahl.
Paul mag VDGG und mein Vater hat früher gerne Frau Hellwig gehört.
Aber was soll uns das alles nun sagen?
Sorry, Manni, Dein Beitrag ist alles in allem recht sinnfrei. Erfreue Dich an Deinem Geschmack, aber ich finde es nicht notwendig, uns zu erklären, was Du nicht magst. Negative Vibes haben wir schon genug in diesen Tagen. Schreib doch mal was über Mahlers Symphonien und die Klangmacht der Emotionen, wie Du es nennst und die Du hier so feierst. Dann können wir vergleichen.
Bin gespannt!
Danke!
Gretel
Manni
17. Oktober 2021 um 12:53 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Solange ich nicht gesperrt werde, wird es sicher weiter Kommentare von mir geben. Und die sind alle mehr oder weniger sinnfrei… Tipp: Lies es einfach nicht, wenn du meinen Namen siehst 🙂
Schon seltsam, deine Auffassung. Immerhin ist dies hier ein Medium, das ausdrücklich Kommentare erlaubt. Dass die alle positiv sein müssen, hab ich nicht als Voraussetzung angesehen. Man lernt eben nie aus. Ich darf also hier nicht schreiben, dass ich Suzy Quattros Musik nicht gut finde. Interessant und super tolerant.