Willkommen zu einem Referenzalbum der progressiven Rockmusik. Als Van der Graaf Generator im Jahr 1971 ihr viertes Album auf den Markt brachten, hatten sie sich in der Szene längst einen Namen gemacht. Die düsteren Texte und mehr noch die ungeheure stimmliche Präsenz des Frontmanns Peter Hammill suchen bis heute ihres Gleichen. Wie schon der Vorgänger H To He Who Am The Only One bewegt sich "Pawn Hearts" in den Niederungen menschlicher Empfindungen, dort, wo Peter sich mit erschütternder Sicherheit bewegt. Er, der 'King Of Fear', wie sie ihn damals nannten. Doch die Faszination der dunklen Mächte unseres selbst sind auch hier bei RockTimes schon häufiger und in vielen Zusammenhängen zitiert worden, es geht scheinbar eine ungeheure Kraft aus den Tiefen unserer Psyche hervor, die uns reizt, lockt, anzieht. Warum? Ich bin nicht Freud, ich bin Pasternak – aber auch ich kann mich dem nicht entziehen, warum auch immer.
Van der Graaf Generator und Peter Hammill haben sich dieser Kraft gestellt, sie haben sich zu den geheimen Geistern bekannt, die vielleicht in uns allen leben und die doch so wenige wahr haben wollen. Ein Song des Albums widmet sich diesem Thema auf besondere Weise.
Auch hier finden wir wieder die gleiche technische Struktur vor wie beim Vorgänger. Die beiden CDs bieten sowohl den klassischen wie einen völlig neuen Mix. Beide Versionen finden sich auf der DVD im Surround-Sound wieder. Bonus-Material ist auch auf diesem Album dabei, so eben auch vier Live-Aufnahmen von BBC One.
Im Gegensatz zum Vorgänger-Album erscheinen mir die drei epischen Werke ein wenig strukturierter, kompositorisch dichter. Die wilden Ausbrüche kommen reduzierter und pointierter. Die Hooklines, teilweise voller trügerischer Schönheit, bieten ein wenig mehr Friedensangebote, die melodieunterstützenden Saxofone klingen neben den Orgeln ein wenig harmonischer und phrasieren nicht mehr ganz so sperrig und aggressiv. Teilweise. Doch dafür kontrastiert die gesamte Komposition deutlich mehr zwischen den mitunter sanften Momenten, in denen Peter fast zärtlich rüberkommt und den Passagen, wo VDGG sich in wilden Breaks und kakophonisch ausbrechenden Soli verliert. Das potenziert die Wirkung auf den Zuhörer ungemein.
Schon "Lemmings" folgt diesem Trend und die faszinierenden Spannungswechsel, gepaart mit dem wieder einmal tief dunklen Text über die Eigenschaft des Menschen, sich den genannten putzigen Tierchen ähnlich am Rand des Abgrunds aufzuhalten, stets bereit, sich die Klippe hinab zu stürzen. Der instrumentale Mittelteil variiert aus einem Chaos heraus übrigens sehr schön und bekanntermaßen wild und virtuos das Hauptthema und die Hookline des gesungenen Parts. Die immer wieder eingestreuten, zurückgenommenen Instrumentalstücke haben mehr Zeit als auf dem Vorgänger, sich unterschwellig in der Psyche ihrer Zuhörer einschleichen zu dürfen. Diese gespenstische Orgel und die vermeintlich sanften Sax-Riffs haben wirklich ein bedrückendes Potential.
Doch dann folgt der Wechsel direkt hinaus aus diesem düsteren Universum in die vielleicht wärmste Harmonie, die VDGG je geschaffen haben, wenn das Piano und Peters unbeschreibliche Stimme in "Man-Erg" überleiten. Willkommen in meinem Lieblingssong der Band ever: »The killer lives inside me: I can feel him move. Sometimes he’s lightly sleeping in the quiet of his room, but then his eyes will rise and stare through mine, he’ll speak my words and slice my mind inside. The killer lives.« Die zweite Strophe beginnt mit der Zeile »The angels live inside me« und schon daran erkennt man, wie sich der Song den guten und bösen Geister in den Tiefen unserer Seele widmet, grandios auch umgesetzt in Peters wechselhaften Stimmungen, mal fast zart und zurückhaltend, mal wie irre und voller zerstörerischer Energie. Wenn das Saxophon solieren darf, kommt es erstaunlich brav und sachlich, viel weniger jazzig kakofonisch wie in "Lemmings". »And I, too, live inside me and very often don’t know who I am, I know, I’m not a hero, I hope that I’m not damned…«, dazu der nirgenwo sonst so deutlich hymnische Ausdruck in Peters Vokalpart, wen es jetzt nicht packt, dem kann ich leider auch nicht mehr helfen. Eine unglaublich bewegende Nummer, die einen durchdringt und nicht mehr loslässt. Welche Band darf sich rühmen, eine solche Intensität jemals entfacht zu haben.
"A Plague Of Lighthouse Keepers" wird in der Literatur gerne mit dem Epos "Supper’s Ready" von Genesis verglichen, weil es eine ähnliche Struktur aufweist, eine Art musikalischer Fleckerlteppich, bestehend aus verschiedenen Klangbildern, die stilistisch nicht wirklich eng miteinander verbunden sind. Es ist das längste Werk der VDGG. Auch hier gibt es, mehr als jemals zuvor, schwebend psychedelische Orgelphasen, die die gesanglichen und geblasenen Ausbrüche bewusst kontrastieren. Im Verlauf dieses gewaltigen Songs kommt in einem Zwischenpart wieder Robert Fripp (King Crimson) als Gast zum Einsatz, wie schon auf dem Vorgängeralbum "H To He Who Am The Only One". Dort war er jedoch sehr viel präsenter, hier nimmt man es bewusst kaum wahr. Dass es in dem bedrückenden Text auch um Tod und Geistererscheinungen geht, wird in den zahlreichen Instrumentalpassagen durchaus deutlich. So entsteht eine Art okkult-morbide Schönheit, die einen gefangen nimmt.
»Nun, hier sind wir als junge Männer, die sich gegenseitig antreiben und alles erforschen. Dies ist die umfassendste Dokumentation dieser aufregenden Zeit in unserem Leben, wie es nur möglich ist. Wir hatten das Glück, von Charisma Records viele Freiheiten zu bekommen, um unseren eigenen Weg – von Anfang an zu finden. Das bedeutete, dass wir uns selbst so sehr pushen konnten, wie es nur möglich war«, sagt Peter Hammill anlässlich der Wiederveröffentlichung des alten Materials im neuen Gewand. Der opulente Ausklang aus dem epischen Werk hat dann tatsächlich auch noch einmal eine kleine Parallele zu "Supper’s Ready" oder auch der legendären "Suite" von Omega, die alle in der gleichen Zeit entstanden sind.
Das Bonus-Programm bietet neben den bereits zitierten Live-Aufnahmen auf CD 1 mit "Theme One" und "W" zwei zusätzliche Nummern, die schon auf der ersten remasterten Version des Albums Anfang der zweitausender Jahre enthalten waren. Diese beiden Nummern findet man auf CD 2 und DVD. Verrückt, dass Peter zu Beginn von "W" fast ein wenig wie Lou Reed klingt.
"Pawn Heart" war das zweite Album auf dem Charisma Label und es sollte ein paar Jahre dauern, bis man wieder im Studio zusammenkommen sollte. Die Zeitschrift Rolling Stone veröffentlichte vor ein paar Jahren eine Rangliste der fünfzig besten Prog-Alben aller Zeiten, "Pawn Hearts" belegt darin den 26. Platz, aber zum Glück kann das ja jeder für sich selbst bewerten.
Verrückt-virtuose Musik, hoch gebeamt auf den neuesten Stand musikalischer Technik, alter Mann, was willst Du mehr. Der Rezensent ist tief bewegt.
Line-up Van Der Graaf Generator:
Peter Hammill (vocals, guitar, piano)
Hugh Banton (organ, piano, mellotron, synthesizer, bass)
David Jackson (saxophone, flute, backing vocals)
Guy Evans (drums, percussion, piano)
Guest:
Robert Fripp (guitar – #2,3)
Tracklist "Pawn Hearts":
- Lemmings
- Man Erg
- A Plague Of Lighthouse Keepers
- Man Erg (BBC Radio One 'Sounds Of The Seventies' Session 10.06.1971 – Bonus Track – nur CD1)
- Theme One (BBC Radio One 'Sounds Of The Seventies' Session 10.06.1971 – Bonus Track – nur CD1)
- Vision (BBC Radio One 'Sounds Of The Seventies' Session 10.06.1971 – Bonus Track – nur CD1)
- Darkness (BBC Radio One 'Sounds Of The Seventies' Session 10.06.1971 – Bonus Track – nur CD1)
- Theme One (New Stereo Mix – Bonus Track – nur CD2/DVD)
- W (New Stereo Mix – Bonus Track – nur CD2/DVD)
Gesamtspielzeit: 69:57 (CD 1), 53:28 (CD 2), 159:57 (DVD), Erscheinungsjahr: 2021 (1971)
Neueste Kommentare