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Wir müssen hier raus! – Zum Tod von R.P.S. Lanrue (Ton Steine Scherben) – Nachruf

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Wenn man es sich mal genau betrachtet, dann gab und gibt es zwar sehr viele gute, aber dann doch deutlich weniger legendäre Gitarristen in Deutschland. Und selbst wenn die letztgenannte Beschreibung auf Ralph Peter Steitz, auch Lanrue genannt, zutrifft, so war dennoch ein zusätzliches Stückchen Frankreich in den 1950 in Grenoble geborenen Musiker eingepflanzt. Mitte der sechziger Jahre spielten Lanrue (noch am Schlagzeug) und der etwa zwanzig Jahre später seinen größten Hit präsentierende Rio 'König von Deutschland' Reiser im hessischen Nieder-Roden erstmalig gemeinsam in einer Band. Das klappte zwar sehr gut, aber ein paar Jahre später zog es Rio zu seinen beiden älteren Brüdern nach Berlin. Einfach war es nicht, aber nach mehreren zähen Überzeugungs-Gesprächen folgte ihm der zögernde Lanrue einige Monate später nach. In der heutigen Bundeshauptstadt angekommen, stieg der gute R.P.S. von den Drums auf Gitarre um und zeigte bereits früh erstaunliches Talent.

Ausgelöst von den Zeichen der Zeit, sprich den politischen Unruhen und einem starken Hang zur linken Szene erfolgte im Jahr 1970 schließlich die Gründung der Band Ton Steine Scherben in Person von Rio, Lanrue, Kai Sichtermann am Bass sowie Wolfgang Seidel an den Drums. Nach der ersten Platte "Warum geht es mir so dreckig?" (1971) folgte 1972 das Doppel-Album "Keine Macht für Niemand", mit dem die Scherben dann endgültig in die deutsche Rock-Geschichte eingingen. Drums und Bass bildeten ein grundsolides Fundament, auf die die manchmal sehr wütenden, manchmal durch wahnsinnig viel Feeling und Melodien auffallenden Gitarren und Vocals bärenstarke Nummern wie etwa "Wir müssen hier raus", "Paul Panzer Blues", "Der Traum ist aus", den Titeltrack, den "Rauch-Haus-Song" oder "Schritt für Schritt ins Paradies" in die Welt hinaus posaunten. Nach dem dritten Album "Wenn die Nacht am tiefsten…" (1975, erneut eine Doppel-LP) war die Band der Großstadt müde geworden und zog nach Schleswig-Holstein aufs Land. Teilweise dort und teilweise in Berlin im Studio entstanden dann auch die letzten beiden Ton Steine Scherben-Studioplatten IV (1981) sowie "Scherben" (1983), bevor die Band sich 1985 auflöste.

Hatten die Scherben als Band schon nie viel Geld verdient und viele Jahre als Kommune am Existenzminimum gelebt, so meinte es das Schicksal auch nach dem Ende der Combo nicht immer gut mit dem Gitarristen. Anfang der 2000er hatte er sein Vermögen in ein Stück Land mit Anwesen in Portugal gesteckt, verlor jedoch alles nur wenige Jahre später durch einen ausufernden Waldbrand. Anschließend lebte er wieder in Berlin und Fresenhagen, wo die Band 1975 hingezogen war. 2010 kam es zu einer ersten Reunion von Ton Steine Scherben (ohne den bereits verstorbenen Rio Reiser) und unter Lanrues Leitung ging die Band 2014 zum ersten Mal wieder auf Tour durch Deutschland, die Schweiz und Österreich. Beim Finkenbach Festival 2015 hatte das anwesende RockTimes-Team leider das Pech, dass Lanrue bei diesem Auftritt nicht zugegen war.

In mehrerlei Hinsicht könnte man das Duo Reiser/Steitz mit ihrem englischen Pendant Jagger/Richards vergleichen. Von Beginn an irgendwie immer dicke Freunde und sich musikalisch hervorragend ergänzend, konnten bei den beiden zwischenzeitlichen Wahl-Berlinern hier und da aber auch schon mal ganz schön die Fetzen fliegen. Das war die eine Sache, wagte es dann jedoch ein Dritter sich einzumischen, wurde er von der ganzen Wucht der beiden – wie auf Anhieb wiedervereinten – Hitzköpfe getroffen. So war es kein Wunder, dass Lanrue auch nach dem Ende von Ton Steine Scherben für große Teile von Rio Reisers Solo-Karriere an dessen Seite stand.

R.P.S. Lanrue war ein großartiger Gitarrist, der seine Anziehungskraft unter anderem aber auch aus dem Mythos bezog, der die von 1970 bis 1985 als Kommune lebenden Ton Steine Scherben umgab. Seine Musikalität und sein kompositorisches Können machte jede einzelne Platte seiner Band zu einer besonderen und auch die vielen Projekte für die er als Gast-Musiker tätig war, durften sich über seine Beiträge glücklich schätzen. Bezüglich seiner geliebten Hüte verstand er jedoch wenig Spaß und ihm einen dieser scherzhaft vom Haupt zu klauen oder hauen, war laut Rio Reisers Autobiografie "König von Deutschland" »…bis in die Neunziger noch ein Freifahrtschein für den nächsten Krankenhaus-Aufenthalt.« Aber gut, unsere Macken haben wir ja alle und da war auch der gute Lanrue keine Ausnahme.

Ruhe in Frieden, mein Freund, wir werden dich nie vergessen!

Über den Autor

Markus Kerren

Hauptgenres: Roots Rock, Classic Rock, Country Rock, Americana, Heavy Rock, Singer/Songwriter
Über mich
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Mail: markus(at)rocktimes.de

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