Yes, they can!
Wir schreiben Oktober 2020, um endlich mal dazu zu kommen, ein paar Worte über diejenigen zu verlieren, die vor 50 Jahren neben Genesis wegweisend für eine neue Stilrichtung der Rockmusik waren. Doch während die Jungs um Peter Gabriel damals eher filigran und mit akustischen Spielereien experimentierten, hatten Yes immer schon einen deutlich rockigeren Duktus vor der Brust und im Kopf. Aber was soll ich viel zu großen Helden des progressiven Rocks erzählen, Menschen, die sich dieser Musik nahe fühlen, wissen nur zu gut, mit wem sie es zu tun haben!
"Yessongs" dürfte zu den größten Live-Alben unserer Kultur gehören, "Close To The Edge" und "Relayer" gehören zu meinen All-Time-Favorits. So eine lange Geschichte, und dann plötzlich ein neues Live-Album? Seien wir den Göttern des Rock ’n' Roll dankbar!
Wer könnte den Gesangspart von Jon Anderson besser ausfüllen als Jon Davison von Glass Hammer? Er trifft den Spirit und den Falsett-Gesang des Originals fast beängstigend gut und hinterlässt uns oftmals in dem wohligen Gefühl, unsere alten Freunden würden hier wie zu Omas Zeiten musizieren. Billy Sherwood trifft übrigens den krachend auf dem Punkt gebrachten Bass von Chris Squire ebenfalls sehr gut – Chris erhob ja seinen Viersaiter immer wieder über das Rhythmus-Gepräge hinaus in den Rang eines Solo-Instruments. Auch Billy vermag sehr kernige Punkte zu setzen und mit den Harmonien zu flirten.
Klar könnte ich jetzt weinen, dass weder "Close To The Edge" noch "Gates Of Delirium" in der Setlist stehen. Zwei Werke, die zusammen 40 Minuten Spielzeit verlangt hätten, lassen sich halt schlecht auf einer CD unterbringen. So liegt der Fokus auf anderen Songs.
Vor allem spielen sie "America", ein Cover von Paul Simon, das mich in der Pause zwischen Abi und Ausbildung in einem sehr heißen Sommer von 1982 begleitet hat. Die Kompilation "Yesterdays" hab ich damals in einem bis heute sehr angesagten Vinyl-Shop in Duisburg bekommen und der Song ließ mich nie mehr los. Hier ist er live auf Tonträgern enthalten. Endlich, eine meiner Lieblingsnummern!
Ist Euch bekannt, dass "Tempus Fugit", zweiter Track auf diesem Album, gleichfalls der Name einer absolut coolen Prog-Band aus Brasilien ist? Ich möchte fast glauben, dass sie sich nach diesem Song benannt haben. Hier beginnt der übrigens fast mit einer santanischen (nicht satanistischen!) Percussion.
"Siberian Khatru" von meinem Favoriten "Close To The The Edge" ist ein echtes Highlight und stellt wieder einmal mehr den je heraus, dass Steve Howe ein ungeheuer vielseitiger Gitarrist ist – hier bringt er das finale Solo jazziger, pointierter und reduzierter als ich es je zuvor gehört habe. Ein klarer, etwas distanzierterer Duktus als früher, aber voller Virtuosität und Vollendung. Und wem diese Klänge zu kühl erschienen sind, wird in "Onward" über einem sehr sanften Tasten-Teppich ein geradezu himmlisch leichtes, repetitives und sehr filigranes Gitarrenspiel im Hintergrund wahrnehmen. Die schönen Vocals legen sich zart schmelzend darüber, während der Bass irgendwie zwischen den Ebenen akzentuiert hin und her mäandert und in den Harmonien fast die Melodik trägt. Eine Komposition fürs Herz und für Yes-Verhältnisse ungeheuer romantisch.
Im Grunde muss ich an dieser Stelle eine Rolle rückwärts bestreiten, was die diversen Ausdrucksmöglichkeiten von Steves Gitarrenspiel angeht. In "Going For The One" mit dem fetzig geslideten Intro und weit mehr noch in "I’ve Seen All Good People" verbreitet er schon vorher ein ganz besonders eindrückliches Blues-Feeling. Sehr cool.
Wie sehr mich "America" schon immer angetörnt hat, hab ich schon beschrieben. "Imagine" hingegen gehört nicht unbedingt zu meinen Lieblingen, wurde doch das Stück für mein Empfinden ein bisschen zu oft und zu viel von allen möglichen Interessengruppen instrumentalisiert. Überfrachtung mag ich nicht. Dass Yes diesen Song spielen ist mir jedoch völlig neu, und das sensible Gitarrenspiel als Partner des einfühlsamen Gesangs vermittelt Gänsehautmomente, die danach eigentlich nicht mehr aufhören. Zum Abschluss holen sie noch einmal zwei Kracher heraus, die schon auf "Yessongs" live gespielt wurden. "Roundabout" und das ekstatische "Starship Troopers", das auch das legendäre Album damals beschließen durfte. Absolute Rock-Geschichte, nun schon seit gut fünfzig Jahren.
Ich muss zugeben, dass ich irgendwann aufgehört habe, dem aberwitzigen Wechseln von Miteinander und Gegeneinander der einzelnen Bandmitglieder zu folgen. Anderson, Bruford, Wakeman, Howe fand ich super geil, als sie 1989 auf der Bildfläche erschienen. Und "Union" mit allen acht Kontrahenten hab ich mir auch noch gegönnt. Ansonsten könnte die Geschichte von Yes in einem Buch gemeinsam mit der unserer Krautrocker von Jane stehen. Unterschiedliche Formationen früherer Musiker, Frage nach den Rechten der Songs – meine Güte, warum müssen so tolle kulturelle Exzesse oftmals in persönlichen Dissonanzen enden? Wahrscheinlich ist eben das das reine Leben und im Grunde kann vermutlich keiner von uns sich freisprechen von solchen Erfahrungen. Nur schreiben die wenigsten von uns Musikgeschichte und darum tut es immer besonders weh, wenn etwas Großartiges zu zerbrechen droht. Zum Glück waren die Krater nie tief genug, um die Projekte zu killen. Bei Yes nicht und bei Jane auch nicht.
"The Royal Affair Tour" wurde im letzten Jahr in Las Vegas aufgenommen und kommt in einem prächtigen Sound-Gewand und auf Hochglanz getrimmt zu uns. Es ist den 'Neuen' zu verdanken, dass dieses Konzert so einen ungeheuren historischen Touch bekommen hat, sie treten in die Fußstapfen ihrer berühmten Vorgänger, als wären sie damals selbst dabei gewesen, als all diese wundervolle Musik entstanden ist. Und die Jungs, die schon länger hier spielen, agieren immer noch auf höchstem Niveau. Ich bin sicher, in der Audienz wird an diesem Abend manch eine Träne verdrückt worden sein.
Yes waren und sind mit Genesis die Urväter des progressive Rock (Pink Floyd waren natürlich auch progressiv, aber die sehe ich doch eher als psychedelische Experimentierer) und sie stehen bis heute ein für ihren legendären Stil – egal in welcher Formation und Besetzung auch immer.
Ich wäre gern dabei gewesen, damals, als alles anfing und letztes Jahr im Hard Rock Hotel, in der Wüste Nevadas.
Line-up Yes:
Alan White (drums)
Steve Howe (guitar, vocals)
Geoff Downes (keyboards)
Jon Davison (lead vocals)
Billy Sherwood (bass, vocals)
Jay Schellen (drums)
Tracklist "The Royal Affair Tour":
- No Opportunity Necessary, No Experience Needed
- Tempus Fugit
- Going For The One
- I’ve Seen All Good People
- Siberian Khatru
- Onward
- America
- Imagine
- Roundabout
- Starship Trooper
Gesamtspielzeit: 75:42, Erscheinungsjahr: 2020
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