26 / Solipsissimus
Solipsissimus Spielzeit: 51:33
Medium: CD
Label: Eigenproduktion, 2008
Stil: Prog Metal

Review vom 07.10.2009


Boris Theobald
12 Monate hat ein Jahr, 60 Sekunden die Minute, 24 Stunden ein Tag... das sind für uns Menschen 'normale' Zahlen. Rund, in einer Weise... aber 26 - irgendwie außerirdisch...
Ich muss unweigerlich an "Star Trek" denken - "Deep Space Nine", um genauer zu sein. Diese von den Cardassianern verlassene Raumstation hat den Tag- und Nachtrhythmus des Planeten Bajor angenommen, in dessen Orbit sie einst errichtet wurde... und auf Bajor hat der Tag nunmal 26 Stunden. 26: außerirdisch, irgendwie.
Stil: Prog Metal. Naja, was sonst? 26 machen keinen Heavy und keinen True Metal, keinen Melodic und keinen Thrash, keinen White und keinen Black Metal. Rock auch nicht. 26 sind experimentell, zuweilen avantgardistisch - unvorherhörbar und sprunghaft, und dennoch kompakt und dadurch eingängig. Es mangelt nicht an wiederkehrenden Elementen, deshalb revolutionieren sie auch nicht das System - aber geradlinig sind sie auch nicht. Schräg. Anders, und darin sehr konsequent. Es passt eigentlich nur eine Schublade, in die sich diese Band rein schubladisieren lässt, und das ist die... 'progressive'? Wenn Dream Theater Progressive Metal von der Erde machen, dann ist das hier Progressive Metal vom Rande des Alpha-Quadranten, 52 Lichtjahre von der Erde entfernt, irgendwo inmitten des Denorios-Gürtels.
Spät in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, irgendwo im Sektor 001 des Alpha-Quadranten begann Andy Kodiwein Musik zu machen. Der Autor von "Solipsissimus" über sich selbst:
»Schon kurz danach traf er auch Marco Minnemann. Absolute Gemeinsamkeit war die Vorliebe für die Musik von Frank Zappa, die man dann auch ausgiebig zelebrierte. Die beiden kennen sich gefühlte 100 Jahre und reden, wenn sie zusammen Musik machen, nur äußerst selten mal ein Wort, und wenn, dann nur um zu überprüfen, ob die vorangegangene halbe Stunde Telepathie auch tatsächlich keine Abweichung enthielt.«
Telepathie... das klingt nach Science Fiction. Eine Bekanntschaft, die über 100 Jahre währt - nahezu prophetisch! Wie alt werden eigentlich Menschen zur Zeit der letzten Jahrtausendwende?
Raumstation "Deep Space Nine". Sternzeit 50929.4, mehr als 350 Jahre in der Zukunft. Dr. Elias Giger entwickelt ein Gerät, welches das Altern verhindern soll. Seiner Theorie zu Folge ist der Alterungsprozess die Folge zellularer Langeweile. Ja, die Zellen langweilen sich! Sie müssen also nur beschäftigt werden. Die Lösung: Die Zellenregenerations- und -unterhaltungskammer...
2008, Erde. Andy Kodiwein hält seine Zellen auf Trab. Er setzt sich hin und schreibt "Solipsissimus". Als empfänglich für die Zellenregenerations- und -unterhaltungstherapie gelten im Experimentierstadium, mangels präziserer Klassifikation, Prog-Hörer mit einem Hang zum Extravaganten. "Solipsissimus" ist zwar nicht so abgehoben durchgeknallt wie Psychotic Waltz, nicht so aufgedreht hochtechnisiert wie Spiral Architect und nicht so ... *hüstel*...laut wie Mekong Delta. Aber schadet nicht, diese Namen mal genannt zu haben. 26 sind nicht übermäßig aggressiv und kein bisschen bombastisch. Der Sound von "Solipsissimus" ist gänzlich ohne Keyboards und ohne Brachialverzerrungen 'nackt' im positivsten Sinne, ursprünglich. Die Gitarren - oft sind es zwei - klingen organisch, direkt, schnörkellos. Sie sind hyperaktiv, und das mit System. Der Tonvorrat eines 'Riffs' reicht anderen Bands für ein ausgedehntes Solo. Jeder Ton eines Arpeggios ist außerordentlich bedeutungsschwanger. Sieges Even-Anspruchsdenken und Fates'sche Detaildichte - unwirklich, geheimnisvoll, angespannt - "Back To" ... "The Mountain": eine Passage für "Perfect Symmetry"-Jünger. Noch ältere Fates Warning - aus den 80ern? Ungeduldige Heavy Metal-Riffs mit krassen Unterbrechungen - à la... Mystic Force? Kennt die eigentlich noch jemand? Noch eine Dimension erregter, unorthodoxer wirkt "Solipsissimus" in den Momenten mit 'klassischem' Metal-Anstrich: Mystic Force mal Faktor x.
x = 26?
Von Tool hat man auch schon mal was gehört - vielleicht vor der Erfindung von "Coma"; langsam, grau und 'doomy' im Zeitraffer (Es ist jetzt der Job der Doomer zu entgegnen, dass dies nun wirklich kein Doom ist) mit Einsprengseln spanischer/klassischer Gitarre. Und von Satch. Und von Rush - das kunstvolle Mit- und Gegeneinander von Alex Lifesons Gitarren mit Geddy Lees Bässen, das ohnehin nicht von dieser Welt stammt. Zuweilen wirkt "Solipsissimus" so, als ob diese beiden beim Schreiben von "Cygnus X-1" oder "Natural Science" irgendetwas Außerirdisches genommen hätten. Vielleicht würden Rush heute so klingen, wenn sie 30 Jahre später geboren wären? Aber immer noch Blues Rock-infiziert - die Überraschung in "Love Who", mit tiefen Gitarren, beinahe so, wie Geddy Lees 'liebste Kopfschmerzen'.
Gefühlte 100 Jahre Bekanntschaft - das zahlt sich aus. Nichts könnte besser zu diesen Gitarren und Bässen passen als dieser Drummer: Marco Minnemann. In Fachkreisen genießt er übrigens einen großartigen Ruf. Eigentlich ist er zu gut, um mit irdischer Währung bezahlt zu werden. Trotzdem verdiente er sein Geld zwischenzeitlich bei H-Blockx, nachts im Schlaf, vermutlich. 26 ist aber kein Geldverdienen - 26 ist Kunst, seelische Erhebung. Was Minnemann zelebriert, ist für normalmenschliches Ermessen kaum nachvollziehbar. Motorik mit Mathematik. Eine Demonstration rhythmischer und technischer Möglichkeiten, dass einem das Hirnwasser in den Synapsen zusammenläuft. Ich komm' nicht mit - aber ich bewundere es.
Ausgesprochen erstaunlich, welch harmonische Einheit die Instrumente zusammen bilden. Extrem gut zu hören! Dichtmaschige polyrhythmische Kraftmeierei oder minimalistisch gewebte Filigrankunst - all das umspannt der Gesang, damit es gut zu hören ist, ganz ohne Musikkonservatorium und Mathematikprofessur. Mit all zu irdischen Spannungsbögen. Rote Fäden als Paketschnüre für das Express-Päckchen in eine höhere Dimension. Klar, klingt Joe Valdarno dadurch abgehoben. So würde Ozzy singen, wenn er singen könnte. Im Falle von 26 über komatöse Traum-Realitäten, Liebe als egoistisches Konstrukt, Verschwörungstheorien. Und eine Phantasie über John Lennon - "Back To": Soll er sich doch bitte mal bequemen und auf die Erde zurückkommen, das zu vollenden, was er unvollendet ließ!
»and the moon reflects in Lucy's eyes
and we all belong to pay the price
4 to be fab and a yellow cab
disappears from the building with the "D" [...]

it's been a long time coming

and there up on the hill stands a golden angel singing

i am here to get you
come to bring you back to
fulfil what you began

i read the news today oh boy«

Man singt und groovt und funkt und frickelt auch über Mineralwasser ("H2O Sparkling"): »war Kodiwein seit jeher ein Bedürfnis, darüber einen Song zu machen, weil er es zumindest aus Erzählungen kannte«
2009 und Sternzeit 50929.4, in der Zellenregenerations- und -unterhaltungskammer. 26 als Frischzellen(!)-Kur für alles Progressive, mit dem Andy Kodiwein zähneknirschenderweise bitte nichts zu tun haben will: »Wer sich musikalisch auf Grund von Klischees und Genrezwang limitiert, bringt sich ums Wesentliche.« Die verwendeten Instrumente sind trotzdem irdisch und die Strukturen lassen Vergleiche zu. Im 21. und im 24. Jahrhundert bleibt 26 daher weitaus hörbarer als die klassische klingonische Oper. Sogar ohne Musikkonservatorium und Mathematikprofessur. Das Rad hat Andy Kodiwein nicht neu erfunden. Nein, auch in Zeiten der Warptechnologie bleibt ein Rad ein Rad. Aber zuweilen pfeift "Solipsissimus" auf die schnöde Physik des 21. Jahrhunderts und beamt sich eins.
"Solipsissimus" hält die Zellen frisch! Willkommen in der Zellenregenerations- und -unterhaltungskammer für Besserhörer. Der Tag hat 26 Stunden. Andy Kodiwein und Marco Minnemann betrieben Mitte der 90er einmal die Band Illegal Aliens. Zufall? Wohl kaum.
Line-up:
Joe Valdarno (vocals)
Andy Kodiwein (guitar, bass)
Marco Minnemann (drums)

Additional musicians:
Kaveh Madadi (tabla - #7)
Thomas St. Jones (didgeridoo synth - #6)
Tracklist
01:Gun Above Her Bed (4:44)
02:Ocean (4:11)
03:Coma (5:17)
04:All Conspiracy (4:39)
05:Love Who (4:22)
06:Ten Minutes Of Truth (3:26)
07:Back To (6:08)
08:The Mountain (0:57)
09:Sliderocks (5:58)
10:Goodbye Laugh (4:04)
Hidden Track: H20 Sparkling (3:06)
Externe Links: