Agitation Free / Fragments
Fragments Spielzeit: 42:36
Medium: LP
Label: MIG Musik (SPV), 2013 (2009, 1974)
Stil: Psychedelic Kraut


Review vom 09.11.2013


Steve Braun
Diese Besprechung lag mir im Magen wie eine gehörige Ladung Thüringer Klöße... Wie sollte ich nur das ergänzen, was mein Krautrock-Kompagnon Markus in solche trefflichen Worte gekleidet hatte?? Es wäre wirklich besser und einfacher gewesen, wenn ich nicht 'ein Auge riskiert' hätte... ;-)
Es war schon ein irre Zeit, damals Ende der Sechziger/Anfang der Siebziger in der deutschen Krautrockszene. Wichtigstes Merkmal war das Fehlen starr festgefügter Bandstrukturen, die Songs hervorbrachte, bei denen feste Systematiken ebenfalls durch Abwesenheit glänzten. Gleichzeitig war man völlig offen für neue Einflüsse aus anderen Stilrichtungen und Kulturen, was bisweilen allerdings obskure Züge annahm oder gar in esoterische Parallelwelten abzugleiten drohte.
All dies findet sich in der Musik von Agitation Free wieder. Wie so viele (deutsche) Bands der damaligen Szenerie waren auch die Berliner eher eine Kreativwerkstatt, eine bunte Spielwiese für ein Kollektiv verschiedenster Musiker. Aber nicht nur das: Krautrock war immer auch eine Lebensphilosophie, eine neue Form des Zusammenlebens und -agierens. Wie vermisse ich das manchmal in unserer heutigen Gesellschaft der angespitzten Ellbogen...
Während in der heutigen Musikszene so manche Formation dieser Jahre noch einen festen Platz hat oder wenigstens eine kleine zwischenzeitliche Renaissance erleben durfte, spricht heute kaum noch jemand von Agitation Free. Dabei hatte sich diese Band in den wenigen Jahren ihrer Existenz bereits einen wahren Kultstatus erspielt. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolges trat man im kulturellen Rahmenprogramm der Olympischen Spiele (1972 in München) auf und tourte auf Einladung des Goethe-Institutes durch Nordafrika, Südosteuropa und den Nahen Osten. Die Eindrücke dieser Reise brachten sie in "Malesch", ihrem für meinen Geschmack bestes Album, ein. Mancher begeisterte Kritiker verglich sie sogar mit US-Institutionen wie Jefferson Airplaine oder Iron Butterfly, was man allerdings durchaus als 'gewagt' bezeichnen konnte (und kann)...
So locker dieses Kollektiv zusammengefügt war, so wolkig löste es sich 1974 auch wieder auf. Die begnadeten Musiker brachten allerdings weiterhin ihre Kreativität in die Krautrockszene ein, auch bei Hochkarätern wie Electric Family oder Ashra.
Am 14. November 1974 spielte Agitation Free ein Abschiedskonzert in einem Berliner Studentenwohnheim. Das Line-up zeigt, dass neben den damals aktuellen Bandmitgliedern auch zahlreiche Ehemalige eingeladen waren. Eine richtig tolle Geste, die ebenfalls bestens in den Kontext der damaligen Zeit passt.
Erstmals sind diese Aufnahmen 1995 erschienen und wurden seitdem zweimal (Garden of Delight, 1998/SPV, 2009) neu aufgelegt. MIG Music veröffentlicht "Fragments" nun erstmalig auf schwerem Vinyl. Dafür musste natürlich die Reihenfolge der Songs verändert werden, damit die beiden Seiten optimal ausgenutzt werden konnten. Auf die Bonustracks der CD muss man hier (selbstredend) verzichten, was durch einen hervorragenden Klang sicherlich wettgemacht werden kann.
Der Reiz der drei Live-Takes liegt (abseits der musikalischen Qualität) darin begründet, dass diese Titel auf keiner der vorherigen Veröffentlichungen zu finden sind. "Fragments" ist also auch in dieser Hinsicht ein 'vollwertiges' Album. Einzig "Mediteranean Flight", die einzige Nummer unter zehn Minuten, wurde nicht live aufgezeichnet, sondern stellte Agitation Frees Beitrag zu dem Hörspiel "Der Störenfried" dar, das wenige Wochen vor diesem Abschiedskonzert eingespielt wurde.
An anderer Stelle schrieb ich kürzlich »Wer braucht schon so etwas 'Spießiges' wie feste Songstrukturen?« und diese Fragestellung kann man ohne einen einzigen Abstrich auf "Fragments" übertragen. Bis auf den "Mediteranean"-Rundflug durch imaginäre, Fusion-geprägte Traumlandschaften bieten sich dem Hörer ausschließlich Jams der ultradicken Jointstärke. Die Themen haben alle Zeit der Welt, sich langsam herauszuschälen und weiterzuentwickeln. Dabei verfangen sich vor allem die Gitarren gerne einmal in orientalischen Klängen. [Schade hierbei, dass keine Informationen der LP beigefügt sind, welche Formation bei welchem Stück auf der Bühne steht! Aber das nur am Rande...] Besonders schön kommt übrigens eine außergewöhnlich vielfältige Rhythmik der (beiden) Schlagwerker zur Geltung, die durch schöne - teils melodische, teils knurrige - Walking-Bassläufe garniert werden. Hoenig bringt mit seinem glockigen Fender Rhodes mehr als einmal jazzige Klangfarben ins Spiel.
Persönlich gefallen mir von den Live-Takes "Mickey's Laugh" und "We Are Men" am besten, während ich in "Someone's Secret" (trotz orgiastischem Aufbau und ekstatischer Rhythmik) Hoenigs Synthesizergezirpe und Micki Duwes (gruselige) Gesangsspielereien als eher deplatziert empfinde. Ansonsten kann ich mich nur Markus' trefflichen Aussagen anschließen, mit denen ich ausnahmslos d'accord gehe!
Beachtens- und erwähnenswert sind noch die Liner-Notes dieser LP-Edition von Wolfgang 'Freddie Dreamer' Kraesze - Radiomoderatorlegende und intimer Kenner der Band seit SFB-Tagen - sowie Alfred Bergmann, dem Autor und Produzenten des o. g. Hörspiels "Störenfried".
Diese Vinyl-Edition von "Fragments" ist streng auf eintausend Kopien limitiert worden, was eine Anschaffung auch wegen der damit verbundenen Wertsteigerung reizvoll macht. Rein musikalisch reiht sich Agitation Free ohnehin in die Crème de la Crème der psychedelischen Krautszene ein und somit stellt diese Scheibe einen Pflichtkauf für diese Zielgruppe dar!
Die allerbeste Nachricht zum Schluss: Agitation Free sind derzeit wieder live zu erleben. Ihr Auftritt beim diesjährigen Burg Herzberg Festival war mit Spannung erwartet worden und hielt, was er versprach. LüüL ist dabei, die begnadeten Michael Hoenig und Burkhard Rausch ebenfalls... wir hoffen doch wirklich sehr, in absehbarer Zeit von einem Konzert der Band berichten zu dürfen!! Eigentlich ein glasklarer Fall für Balve, oder??
Line-up:
Micki Duwe (guitars, vocals - #1/1)
Lutz 'LüüL' Ulbrich (guitars, keyboards)
Michael Hoenig (synthesizer, keyboards)
Bernhard Arndt (piano)
Jörg Schwenke (guitars)
Gustl Lütjens (guitars, bass)
Michael Günther (bass)
Burghard Rausch (drums)
Christoph Franke (drums)
Tracklist
Side 1:
01:Someone's Secret (18:13)
02:Mediteranean [sic!] Flight (4:03)

Side 2:
03:Mickey's Laugh (10:00)
04:We Are Men (10:20)
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