Jim Derogatis & Carmel Carrillo/ Hall Of Shame
Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock 'n' Roll
Hall Of Shame
Eigentlich hatte alles einmal ziemlich harmlos begonnen, als 1979 Rolling Stone-Edelfeder Greil Marcus "Stranded-Rock 'n' Roll For A Desert Island", Plattenwünsche von prominenten Zeitgenossen für die sprichwörtliche einsame Insel zusammenstellte.
Das erste sogenannte Listenwerk der Rockgeschichte war geboren, der erste Kanon ewig gültiger Poprock-Werke zwischen den Buchdeckeln manifestiert. Viele weitere Listen mit 'Besten Alben aller Zeiten' folgten bis heute.
Wer die Musikgazetten aufschlägt, wird vehement mit neuen Varianten überrascht, denn so das Kalkül, Musikliteratur-Konsumenten lieben Listen.
Die Chicagoer Musikkritiker Jim Derogatis (schreibt u.a. für die Chicagoer Sun Times, verfasste bisher drei Bücher und ist Co-Moderator in der weltweit einzigen Rock 'n' Roll-Talkshow 'Sound Opinions') und Carmel Carrillo (ist Redaktionsassistentin der Chicago Tribune), hassen eben solche Gebetsblätter der Musikbranche und haben deshalb nun unter dem Titel "Hall Of Shame..." selbst eines zur 410-seitigen Buchform aufgeblasenes herausgegeben.
Eine Attacke auf angeblich historisch-klassische Alben der Sechziger-Generation, wie es zünftiger nicht sein könnte. Hier wird geketzert, polemisiert, gerüpelt, dass es nur so kracht ums empfindsame Rockerherz.
So wagen befreundete Federkrieger der neuen Generation, die regelmäßig für einschlägige Musikjournaillen arbeiten, einen mutigen Angriff auf die Ikonen des Rock und auf deren ergraute Kritikereminenzen.
Hier werden verbal heilige Kühe geschlachtet und die einstmals im Woodstock-Schlamm watende Generation ihrer Illusionen beraubt.
Es wird mit der Streitaxt kreuz und quer in der so gern denkmalschützenden Geschichte des Pop und Rock gewütet.
Alles Affirmative wird leichtfüßig weggekehrt, Heiligtümer dialektisch entweiht.
Gleich zu Beginn des Schmähfestes zielt Herausgeber Derogatis selbst auf die bedeutendste Zäsur in der Popgeschichte: The Beatles "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band". Er nennt es erbarmungslos »...39 Minuten unbemerkenswerter, unseliger Musik mit einem konservativen reaktionären Leitmotiv...«.
Seine präzise Analyse der textlichen Plattitüden und musikalischen Banalitäten muss selbst hartgesottene Beatles-Fans ins Grübeln bringen.
Gastschreiber Keith Moerer nennt das Rolling Stones-Doppelalbum "Exile On Main Street" eine »...Bullshitinspiration für Horden von Musikern, die Exzess und Selbstzerstörung verherrlichen und sich vorlügen, dass ihre schwache halbfertige Arbeit das Beste sei, was sie jemals hervorgebracht hätten.«
Kollege Fred Mills pirscht sich an Neil Youngs Erfolgsalbum "Harvest" heran, wobei Interessierte längst wissen, dass hier keineswegs die Sternstunde des größten Gitarristen und Songschreibers geschlagen hatte.
Pink Floyds Dauerwerk Dark Side Of The Moon wurde bei Erscheinen sogar in Deutschland geschmäht, selbige sagten schon im Titel exakt, wo Pink Floyd sich befindet: Hinterm Mond.
Selbst Großselbstbediener in T.S.Eliot, Nietzsche und Blake-Zitaten, Jim Morrison, wird erbarmungslos vom Sockel geschubst.
Marc Weingarten entzaubert behutsam Eric Claptons "Layla"-Doppelalbum aus ganz persönlicher Perspektive. Duane Allman, der größte Slide-Gitarrist aller Zeiten und Claptons vermeintlicher Kompagnon, erwies sich darauf eben doch als der mächtigere Gott.
Es herrscht aber irgendwie eine nicht eingestandene Ehrfurcht vor der Avantgarde, die eine Demontage von Captain Beefhearts "Trout Mask Replica" so zurückgenommen klingen lässt.
Auch aktuelle Listen-Dauerbrenner wie Nirvanas "Nevermind" oder Radioheads "Ok-Computer" landen unter der Kritiker-Guillotine, werden aber seltsamerweise etwas 'bemühter' verrissen.
Warum sollte eine Platte mit so unglaublich vielen Waldhörnern, wie "Pet Sounds" von den Beach Boys derartig einflussreich gewesen sein?
Mit viel Augenzwinkern, Kenntnis und rebellischem Geist entzünden die Autoren die Debatte um die 'großen' Alben von Neuem.
Darüber und über noch unendlich viel mehr kann man herrlich schmunzeln, streiten oder laut F... rufen, vor allem wenn den eigenen Göttern zuviel Putz abgekratzt wird.
Einziges Manko ist die aufgeprägte Textform des Popjournalismus und die oft gleiche Schemata zahlreicher Beiträge.
Na denn, lasst euch ein auf etwas gehirnfurzige Polemik, die gehörig Widerspruch provoziert!
Die Ironie dabei ist: Im Anhang finden sich die Autorenportraits mit der dazugehörigen Lieblingsalben-Top-Ten.


Jim Derogatis & Carmel Carrillo - Hall Of Shame
Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock 'n' Roll
1.Auflage, April 2006, Published by Arrangement with Barricade Books, Inc. Fort Lee, NJ, USA
Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel: "Kill Your Idols, A New Generation of Rock Writers reconsiders The Classics"
Rogner&Bernhard GmbH & Co.Verlags KG,Berlin, Hardcover gebunden, 410 Seiten, ASIN: 3807710132 , 22,90 EUR
Ingolf Schmock, 16.07.2006