Habt ihr schonmal über eure Lesegewohnheiten nachgedacht? Also nicht unbedingt über 'im Bett', 'in der Badewanne' oder 'im Sessel', sondern darüber, was euch beim Lesen wichtig ist, was ihr unwillkürlich immer wieder macht und ob ihr das vielleicht bei unterschiedlichen Arten von Büchern unterschiedlich handhabt? Ich ehrlich gesagt nicht, zumindest nicht intensiv. Bis "Loud!" kam, im Februar letzten Jahres. Das Angebot, diese 'Geschichte der Rockmusik' zu besprechen war reizvoll, klang interessant und ließ mich auch über den Wermutstropfen eBook hinwegsehen. Die Begeisterung für die entsprechenden Reader kann ich noch immer nicht teilen, doch für bestimmte Anwendungsgebiete sehe ich das Medium durchaus als sinnvoll und praktikabel an. Also, per PDF auf Laptop lesen... dachte ich. Die ersten 20 bis 30 Seiten ging das auch ganz gut, nach dem ersten Rechnerneustart war dann erstmal Suchen im Buch angesagt. Irgendeine Form der Navigation im Dokument? Leider komplette Fehlanzeige! Weder Bookmarks noch ein klickbares Inhaltsverzeichnis mit der Option sich das an der Seite anzeigen zu lassen.
Nach ein paar Versuchen mit Merkzettel am Rechner, auf dem die letzte Seitenzahl notiert wurde, dann die Suche im Acrobat Reader und tatsächlich, gut versteckt hat der sogar eine Funktion, die das Dokument wieder an der zuletzt genutzten Stelle 'aufschlägt'. Doch hin- und herblättern? Mühsame Geschichte, da das nur entweder per Scrollen, Durchblättern oder eben zurück an den Anfang zum Inhaltsverzeichnis und von dort aus per Eingabe der Seitenzahl an die gewünschte Stelle möglich ist.
Auch die an dieser Stelle naheliegende Idee, dann doch wenigstens das Inhaltsverzeichnis, wenn nicht gar das ganze Buch auszudrucken ist nicht so ohne weiteres durchführbar, da sowohl Drucken als auch Kopieren gesperrt sind. Bei allem Verständnis für Urheberrechtsbelange, wenn die Usability dadurch vollkommen den Bach runtergeht, endet mein Verständnis an dieser Stelle. Zumal ja inzwischen altbekannt sein dürfte, dass kein Schutz wirklich sicher ist...
Denn vom Inhaltlichen her schreit dieses Buch für mich ganz laut danach, hin- und herzublättern. Bei Papierwerken liegen da bei mir mehrere Lesezeichen oder Zettel drin, die Finger stecken zwischen den Seiten, um nochmal zurückzugehen oder auch mal vorzuspringen. Gerade dann, wenn beispielsweise dem Rockabilly in den 80ern ein ganzes Kapitel gewidmet wird, während er in den 50ern nur in einem Satz abgehandelt wird. Oder wenn sich der Leser verwundert die Augen reibt und fragt, ob er nun ein Déjà vu erlebt, weil ihm der Absatz über Udo Lindenberg, Motörhead oder die Scorpions irgendwie bekannt vor kommt. Denn irgendwie muss da schon beim Schreiben so Einiges verrutscht sein. Im Hinterkopf dröhnt die Stimme meines früheren Deutschlehrers »Macht euch eine Gliederung und haltet euch gefälligst daran!!!«. Ob die Autorin diese Weisheit nicht kannte oder einfach nur genauso ignoriert hat wie wir, damals zu Schulzeiten? Denn was uns bei einer zwei- oder dreistündigen Klassenarbeit übertrieben vorkam, hätte bei einem Werk von über 700 Seiten ganz sicher eine Berechtigung. Kopierfehler schließe ich aus, denn die betreffenden (zahlreichen) Passagen ähneln sich zwar immer ein Stück weit, sind aber nicht identisch.
Ich greife nur mal die 70er raus. Darin finden sich gleich fünf Kapitel mit Überschriften wie "Polit-Rock in Deutschland" (S. 168), "Elektronische Musik in Deutschland" (S.193), "Deutschland: Deutsche Texte" (S. 244), "Rock in Deutschland" (S. 272) und "Rockmusik in Deutschland" (S. 318).
Beim Polit-Rock tummeln sich Floh de Cologne, Ton Steine Scherben, Ihre Kinder, Checkpoint Charlie und Lokomotive Kreuzberg, von denen die Scherben, nach Ansicht der Autorin, die »anarchistischsten und militantesten Vertreter des Agit-Rock« waren. Als Beweis wird ein Textzitat aus "Paul Panzers Blues" und der Auftritt von Nikolaus 'Nikel' Pallat in der Fernsehdiskussionsrunde, in der er vor laufender Kamera mit einem Beil (!) einen Tisch zerschlägt, angeführt.
Nach einer Ausführung über die allgemeine politische Lage, wird dann (unter der Kapitelüberschrift "Politrock"!) der Bogen gespannt zu Frumpy (mit Inga Rumpf), Kraan, Eloy, Jane und den Scorpions, bevor das Fehmarn-Festival das Polit-Rock-Kapitel beendet. Nur ganz am Rande nochmal der Hinweis auf mein Bedürfnis zu blättern und Finger oder Lesezeichen zwischen Buchseiten zu platzieren, allein schon, um mich zu vergewissern, dass ich nicht vielleicht zwischendurch eine Kapitelüberschrift verpasst habe... Wer hier Hannes Wader, Degenhardt und Co. vermisst, der muss schon unter dem Kapitel "Rock Ladies" nachschauen - ich glaube, ich hab irgendwas verpasst...
Es liegt natürlich in der Natur der Sache, dass die Geschichte der Rockmusik nicht auf etwas über 700 Seiten vollständig abgehandelt werden kann; wäre doch jede Band, die allein in diesem Kapitel angerissen wird, allein schon ein paar Hundert Seiten wert. Und doch schwanke ich zwischen Schmunzeln, Stirnrunzeln und echter Verärgerung angesichts dessen, was Corinne Ullrich als Charakteristik der Gruppen rauspickt. Meine Verärgerung über die Reduzierung der Scherben auf Krawall lässt sich vielleicht schon oben rauslesen.
Was halten aber Kenner der entsprechenden Band von einer Aussage wie beispielsweise »Ihre Live Auftritte glichen Materialschlachten mit gigantischer Lightshow, Rauchbomben, Nebelschwaden und Diaprojektoren. Ihr Sound war bombastischer Keyboard Kitsch mit mystischen Texten über den Untergang der Erde ("Floating"), das Geheimnis von Atlantis ("Ocean") oder die 'Droge' Macht ("Power And The Passion"). Eloy warfen mit intellektuellen Brocken um sich, ohne aber einen persönlichen Bezug oder wirkliches Verständnis für diese Themen zu entwickeln.«?
Die "Elektronische Musik in Deutschland" ging laut Corinne Ullrich aus Tangerine Dream
, Kraftwerk, Amon Düül und Can hervor, die den britischen New Wave der 80er prägten. Unter der Überschrift "Deutschland: Deutsche Texte" dann wieder Kraftwerk, ihr Einfluss auf britische Bands und ihr Erfolg in den USA, ein ganz kurzer Exkurs zu Hoelderlin und Joy Fleming bevor dann 'uns Udo' gewürdigt wird.
"Rock in Deutschland" fängt an bei Lake mit Alex Conti, kurz gestreift dann Spliff, noch mehr Udo (u. a. mit Ulla Meinecke) und schließlich Marius Müller-Westernhagen als Schlusslicht dieses Kapitels. Die "Rockmusik in Deutschland" eröffnet mit den Scorpions, noch mehr Udo und dann, wohl weil damals so populär in Deutschland, Barclay James Harvest, Emerson, Lake & Palmer, Yes, Asia, Fleetwood Mac, Eagles und dem Konzert mit Toten der Who in Cinncinati, Ohio.
Klingt konfus? Find ich auch. Und das zieht sich leider durch die Jahrzehnte und Kapitel durch. So richtig grobe Schnitzer bei den Fakten sind mir zwar nicht aufgefallen, die Auswahl der Themen mag ja noch subjektiv geprägt sein, doch ein roter Faden fehlt mir hier vollkommen. Und das ist neben den sehr suboptimalen Navigationsmöglichkeiten das weitere ganz große Manko dieses Werks. Auf mich macht es den Eindruck, da wurde einfach mal drauflosgeschrieben und das, was spätestens das Lektorat reklamieren würde, ist komplett unter den Tisch gefallen. Als Nachschlagewerk ist es aufgrund der zwangsläufigen Oberflächlichkeit untauglich und um es wirklich in einem Rutsch durchzulesen, fehlt mir die klare Linie, verzettelt es sich dann doch zu oft in Details.
Sicher ist es heutzutage einfacher geworden, irgendwas zu veröffentlichen, doch das notwendige Handwerk sollte immer noch dazugehören, berücksichtigt und beherrscht werden. Gerade dann, wenn im Eigenverlag veröffentlicht wird. In der jetzigen Form sehe ich darin leider nicht mehr als einen ambitionierten Versuch...
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