Halbmetallisch, furchtbar giftig, darf auf keinen Fall in die Hände von Kindern gelangen. Das ist Arsen. Und Arsen sind eine Band aus Berlin, die hart und mit schwermetallischen Anleihen rockt, deren Sängerin ein exzellentes Gift spuckt und deren Botschaften nix fürs Kindergartengesangsbuch sind. Zum Teil spielen die Berliner seit gemeinsamen Schülertagen zusammen. 2009 kamen der zweite Gitarrist Matze Zaech und Sängerin Selima Sahin, genannt 'Selly', hinzu. "Worte gegen Krieg" ist das erste Album in dieser Besetzung, und vielleicht ja das erste, das das Zeug für eine größere Öffentlichkeit hat. Frontfrau Selly machts möglich. Das Album mit dem bedeutungsschweren Namen bietet 50 Minuten Power-Gesang in drei Sprachen (!) zu Power-Rock mit stilistischen Sperenzchen - und als Highlight einen Titeltrack, der bei meiner persönlichen Hit-Liste wohl nur noch schwer vom Song-des-Jahres-Thron zu stoßen sein wird.
Arsen spielen einen 'punkigen' Hard Rock. Nicht zwingend Punk, zumindest nicht immer. Oft ist das 'einfach nur' straighter, harter, intensiver, geiler Rock. Da muss man nicht immer den Namen einer Schublade dran kleben, in die der Song rein soll. Fakt ist: Es geht heftig zur Sache. Es gibt satte Grooves, knallende Drums mit fein dosierten Double Bass-Portionen und markanten Fills sowie einen gesunden Gitarrenmix aus feiner Schrubbelei, antreibenden Riffs und ausdrucksstarker Melodiearbeit. Und diese Musiker haben richtig was auf dem Kasten - nicht, dass jemand daran gezweifelt hätte... Hier sind schon sehr ausgesuchte Drives am Start. Ständig wird variiert und gewechselt, es gibt unheimlich viele Breaks und dynamische Richtungsänderungen, das ist klasse! Alle paar Takte fühlt sich der gepflegte Arschtritt ein kleines bisschen anders an. Mitreißend ist alles und immer.
So viel Alkohol wie in den Texten kommt im Blut der Musiker ganz sicher nicht vor. Zumindest nicht bei der Studio-Session, denn das ist hohe Qualität. Und Sellys Gesang ist Weltklasse. Hammer, mit welcher Inbrunst und Intensität sie zu Werke geht. Oft ist es eine Art geshouteter Sprechgesang, und zwar unglaublich präzise und sauber und stark. Die Frau ist mit einem sagenhaften Organ gesegnet. Die meisten Stücke knallen irgendwann nochmal mit doppeltem Tempo oder dreifachem Druck aus dem Lautsprecher - kaum einer geht so zu Ende, wie er anfängt - und völlig unabhängig vom Energielevel der Band: Selly toppt alles. Im Fußball würde bei so einem Talent bestimmt der FC Bayern München anklopfen. Aber bestimmt würde sie nicht wechseln; denn Arsen sind einfach zu 'echt'; da gehört alles genau so zusammen.
Einige Texte handeln samt unverblümtem Vokabular von der Lebenseinstellung 'Sex, Drugs & Rock'n'Roll': Alles mitnehmen, alles erleben. "Sonntag" ist dabei wohl die Band-Hymne schlechthin. Da geht es einfach nur darum, dass Arsen spielen. Und um Bier und um Freunde und um Spaß. Klarer Fall. "Scheißegal" bringt mich schon eher zum Nachdenken. Da geht es erstmal darum, das Leben zu leben, als gäbe es kein Morgen - gut zum Mitsingen, aber auch grenzwertig. Bei den 'harten Drogen' in den Lyrics wird klar: Der Song wandert bewusst auf dieser Grenze und bringt viel Arsen'sches Lebensfeeling rüber, ist aber auch eine Mahnung. Bei "Kein Ausweg" (»Dein Leben vergeht! Die Uhr bleibt stehen!«) wird der Fall dann schließlich klar: Nein, Arsen sind nicht von allen guten Geistern verlassen. Sie wissen, an was sie Spaß haben, aber sie wissen auch, dass es gefährlich ist, die rote Linie nicht zu (er)kennen.
Aber in musikalischer Hinsicht können verschwimmende Grenzen ja ganz anregend sein. Hard Rock und Punk, rasantes Up-Tempo oder schleppende, bedrohliche Riffs in ein und dem selben Song ("Der Ausweg"), hier mal etwas ruhiger, da mal ein Hardcore-Einschub. Es klingt auch teils Indie-rockig nach Guano Apes. Und sobald die Lead Gitarre sehr melodisch zu Werke geht, ertönt plötzlich ganz, ganz uriger NWOBHM! Bei "Sonntag", zum Beispiel, aber auch bei "Scheißegal", "Imperium" oder "Auf den Dächern von Berlin". Die handwerkliche Qualität erstaunt dabei immer wieder - die ist mitnichten 'scheißegal'.
Die größten stilistischen 'Ausreißer' sind wohl das arg anarchische "Reh-Lied" (über ein fliegendes Reh mit Badekappe und das Rauchverbot des Försters) auf der einen Seite und "Der letzte Takt" auf der anderen: Ruhig und mit Wehmut, Selly ganz nachdenklich - ab der Mitte gibt es das Ganze in der Power-Version. Wow, diese durchdringende Stimme! Besondere Akzente setzen nochmal zwei türkischsprachige Stücke. "Bir sans daha" ("Noch eine Chance") fesselt mit seiner spannend-melancholischen Grundstimmung. Da schwelt etwas, da kommt eine innere Zerrissenheit rüber. Und nachdem es schon einige punktuelle Double Bass-Attacken im Hintergrund andeuteten, 'explodiert' der Song später in eine ausgewachsene Portion Thrash Metal. Klasse ist auch die Powerballade "Sensiz" (Ohne dich) - viel Emotion, viel Durchschlagskraft dank der vollen Einsatzes zweier Gitarren. Und viel Abwechslung auf dieser Platte!
Das ganz große Highlight bildet der Titeltrack "Worte gegen Krieg". Mit einprägsamem, beklemmend-melodiösem Riffing und ungeheuer expressiver Schwermut erzählt diese anklagende Nummer in brutal desillusionierenden Worten von der sinnlosen Zerstörung einer Familie. Das Ganze geschieht in derart ergreifender Weise, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen. Heavy, eindringlich, tiefsinnig und betörend. »Menschen jagen Menschen, für Reichtum und Profit, doch wir, die hier sterben, werden nie gehört...« Der klasse Chorus, der gerade zwei Mal vorkommt, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Der sensationelle Höhepunkt eines Albums, das pausenlos überrascht. Die stilistische Quertreiberei nimmt einen mit auf eine teils extreme, auch schon mal 'durchwachsene' Berg- und Talfahrt. Sie kann mich stilistisch nicht überall überzeugen. Aber trotzdem nie wirklich abschrecken, weil es so intensiv und authentisch ist. Und manchmal spontan begeistern.
Line-up:
Selime 'Selly' Sahin (vocals)
Dennis Gelee (bass)
Norman Wycisk (guitar)
Matze Zaech (guitar)
Dennis Hoffmann (drums)
Tracklist |
01:Nackt im Regen (3:17)
02:Scheißegal (3:17)
03:Bir sans daha (3:34)
04:Lemmy (3:36)
05:Der Ausweg (3:22)
06:Imperium (3:53)
07:Worte gegen Krieg (4:36)
08:Sonntag (4:11)
09:Reh-Lied (2:39)
10:Protest Gun (2:17)
11:Stronger Than Before (2:50)
12:Auf den Dächern von Berlin (4:34)
13:Sensiz (4:37)
14:Der letzte Takt (4:02)
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