Nach Thick As A Brick 2 hätte man meinen können, dass Ian Anderson wieder ewig lange warten würde, um seinem imaginären Schützling Zeit zu geben, weitere Erfahrungen im Leben zu sammeln. Allerdings sind kaum zwei Jahre vergangen und Gerald Bostock kehrt erneut zurück. Nach seiner 40-jährigen Karriere in der Politik, die auf "TAAB2" aufgearbeitet wurde, bringt sich Bostock für eine Tour seines Übervaters Anderson als dessen Manager ein. Dabei interessiert er sich verstärkt für das Songwriting und beim Stöbern in alten Archiven findet er ein unveröffentlichtes Manuskript des Amateurhistorikers Ernest T. Parritt (1865-1928). Parritt befasst sich darin mit der britischen Geschichte und ergänzt diese in Bezug auf Prophezeiungen, angefangen von der Steinzeit bis hin in die Zukunft zum Jahr 2044. Er selbst, durch Malaria im Fieberwahn, erschuf dadurch verschiedene Charaktere, wie einen Steinzeitnomaden oder einen Schmied in der Eisenzeit. Bostock formt diese Geschichten in Musik um, die nun auf "Homo Erraticus" erscheint, das dem Titel des Manuskriptes "Homo Britannicus Erraticus" entspricht.
Natürlich ist Bostock Anderson und Anderson Bostock und man spürt förmlich, wie er mit dieser Aufgabe verschmolzen ist. Bereits beim ersten Song "Doggerland" überkommt mich verstärkt das Gefühl, hier wieder Jethro Tull in ihrer, für mich, besten Form zu Zeiten von "Minstrel In The Gallery" oder "Songs From The Wood" erleben zu dürfen. "Homo Erraticus" ist im Ganzen besser als "TAAB2". Viel druckvoller, einfühlsamer, harmonischer und nicht so verspielt. Ian Anderson hat erneut seine 'Hausband' um sich geschart. Diese Musiker transportieren das Gefühl ebenso perfekt, wie die Ex-Mitglieder von Tull. Ich denke, dass wir uns nun endgültig damit abfinden sollten, dass Martin Barre nicht wieder zurückkehren wird.
Hier im einzelnen auf die Musik der fünfzehn Songs, von Anderson in 'Chapter' benannt, einzugehen, wäre fatal und oberflächlich. Spannender ist es vielmehr, sich mit den Themen der verschiedenen Werke auseinanderzusetzen.
"Doggerland" spielt im Jahre 7000 vor unserer Zeitrechnung. Hier wird die Ausbreitung der Menschheit angesprochen, die Besiedlung von England und dem Rest von Europa, die Entwicklung der Tierwelt und die Renaturalisierung der Erde nach der letzten Eiszeit. "Heavy Metals", die Eisenzeit, wird von Anderson als Entstehung der Bombe angesehen. Keine uninteressante Denkweise, da man diese Zeit bisher nur der Erfindung von Hieb- und Stichwaffen zugeordnet hat. "Enter The Uninvited" dreht sich um Römer, Sachsen, Wikinger und spricht in kleinen Auszügen heutige Burger-Imperien und kokainverseuchte Cola an. Eine etwas große Spannweite. "Puer Ferox Adventus", bei dem der Lateiner gefragt ist, dreht sich um die Entstehung des Christentums. Musikalisch sehr mystisch. Zusammen mit "Doggerland" der eindrucksvollste Song des Albums "Homo Erraticus" und mit über sieben Minuten auch der längste.
Wir nähern uns etwas moderneren Zeiten. Das 12. Jahrhundert bekommt in "Meliora Sequamur" Andersons Aufmerksamkeit. Schwerpunkt darin ist das beginnende Bildungssystem. 1750, "The Turnpike Inn" - Gasthaus und Pferdewechsel, zollpflichtige Wege und Brücken auf der Route in entfernte Städte. Jeder hält die Hand auf und der Reisende darf dankbar sein, nicht überfallen und ausgeraubt zu werden. Kriminalität verbreitet sich ebenso rasant wie das Wachstum vom Dorf am Fluss zur Handelsstadt. Die Epochen werden kürzer, die Schnelllebigkeit nimmt ihren Lauf. Wir befinden uns bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Anderson besingt das Industriezeitalter. "The Engineer" ist geboren und wird zu einem wesentlichen Berufszweig, der den Menschen das Leben leichter macht, aber auch gewaltige Probleme beschwört, wie im folgenden Song "The Pax Britannica" beschrieben. Die Handlung spielt vor dem Ersten Weltkrieg. Albert und Victoria regieren Britannien. Das Königreich breitet sich weltweit aus, belagert und erobert. Handel und Korruption nehmen deutlich zu, der nahende Krieg wird unabwendbar. Historiker Parritt, auf dessen Aufzeichnungen alles beruht, klappt sein Geschichtsbuch zu und wendet sich seinen Zukunftsvisionen zu.
Im Instrumentalwerk "Tripudium Ad Bellum" geht es ausschließlich um beide Weltkriege. Völlig ohne Text, lässt Anderson nur die Musik für sich sprechen. Mit zweieinhalb Minuten für meine Begriffe deutlich zu kurz, um alles Leid dieser Zeit widerspiegeln zu können. Aber wie lang soll ein Musikstück sein, um zwei Kriege darzustellen? Wir sollten dankbar sein, so etwas nie erlebt zu haben.
Die fünfziger Jahre. Verbreitung des Fernsehens, mechanisierte Agrarwirtschaft, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. "After These Wars" gibt neue Hoffnung auf eine bessere Zukunft und geht reibungslos in das nächste Jahrzehnt über. "New Blood, Old Veins" beschreibt zufriedene Menschen, denen es finanziell besser geht. Der Traum von fernen Ländern wird mehr und mehr Realität. Reisen innerhalb und außerhalb Europas stehen auf vielen 'To Do'-Listen.
Anderson nähert sich dem Ende seiner Wanderung durch die Zeiten. Wir schreiben das Jahr 2013. In Begleitung eines Klaviers erklärt Ian ein englisches Sprichwort. "In For A Pound" ist zwar nur die Hälfte des Spruches, der im Ganzen 'In For A Penny, In For A Pound' lautet und so viel bedeutet wie 'Mach aus wenig mehr oder sei zufrieden mit dem was du hast'. Während unseres Interviews mit Ian Anderson im Vorfeld zur Veröffentlichung von "Homo Erraticus", geht er sehr intensiv darauf ein und gestattet uns sehr viele Einblicke in seine außerordentliche Denkweise, nicht nur zu diesem Thema.
Wichtige Themen, die ihm noch sehr am Herzen liegen, werden in den letzten drei Songs verarbeitet. "The Browning Of The Green" beschreibt den Wandel von Wiesen und Weiden in großflächige Kornfelder, um die Nahrungsversorgung der Menschheit in der Zukunft sicherzustellen. "Per Errationes Ad Astra" ermahnt uns Anderson, nur mit dem gesprochenen Wort im Jahr 2024, die Botschaften der Aliens nicht falsch zu interpretieren. 'Wir kommen in Frieden' haben schon andere weit vor uns ebenfalls falsch verstanden.
2044, Endzeitstimmung. Der Meeresspiegel ist deutlich angestiegen, die Menschheit hat sich rasant vermehrt. Umweltkatastrophen sind an der Tagesordnung, es gibt weder genug Trinkwasser noch Treibstoff. Jeder ist sich selbst der Nächste, alles nimmt ein schreckliches Ende, um in "Cold Dead Reckoning" von Neuem zu beginnen. Die Erde erholt sich. Nur wenige Menschen haben überlebt, die Pflanzen und Tierwelt entwickelt sich aufs Neue, ein neuer 'Garten Eden' entsteht. Haben diese verbliebenen Menschen begriffen, wie es dazu kam? Lernen sie etwas daraus? Was kann man im Voraus dafür tun, dass dieses Szenario, das Anderson Schritt für Schritt beschrieben hat, nicht eintritt? Jeder hat an sich selbst zu arbeiten.
Wie soll man unter Einfluss dieser Emotionen nun abschließend diese CD beurteilen? Ich finde, dass es das beste und tiefsinnigste Werk ist, das bislang aus der Feder Andersons kam. Je älter der Mann wird, umso mehr setzt er sich mit Problemen auseinander, die nicht nur ihn persönlich betreffen. Schade, dass er nicht einflussreich genug ist, um wirklich etwas auf der Welt bewegen zu können. Wer sich beim Genießen der CD nur auf die Musik konzentrieren möchte, der wird seine Freude haben und in Erinnerungen schwelgen können. Die Tour zum Album "Homo Erraticus", soviel sei hier schon verraten, wird sehr monumental gestaltet sein. Anderson möchte die Geschichte der Songs bildlich und plastisch darstellen und deshalb wird auch wieder der Akteur Ryan O'Donnell mit von der Partie sein. Lassen wir uns überraschen.
Line-up:
Ian Anderson (vocals, flute, mandolin, acustic guitar, bouzouki, harmonica)
Florian Opahle (guitar)
John O'Hara (keyboards)
David Goodier (bass)
Scott Hammond (drums)
Tracklist |
01:Doggerland
02:Heavy Metals
03:Enter The Uninvited
04:Puer Ferox Adventus
05:Meliora Sequamur
06:The Turnpike Inn
07:The Engineer
08:The Pax Britannica
09:Tripudium Ad Bellum
10:After These Wars
11:New Blood, Old Veins
12:In For A Pound
13:The Browning Of The Green
14:Per Errationes Ad Astra
15:Cold Dead Reckoning
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