Für die Einen langsam verschwommene Erinnerungen, für die Spätgeborenen nur unwirkliche Anekdoten heutiger Geschichtsbücher, für den Großteil derer, im angeblich von Arbeitern regierten Unrechtsstaat Gelebten, für ewig ins Hirn gemeißelt, gelten heute Mauer-Dokumentationen zu Recht als cineastische Aufheller gegen das Verblassen.
So versprühte, damals wie heute, Musik ihren völkerverbindenden Wirkstoff und ließ ihren tönenden Reiz auch nicht hinter einem betonierten Stacheldraht verstummen. Eine Tatsache, vor welcher selbst die verbohrten Ex-DDR-Mächtigen Anfang der Achtziger kapitulieren mussten. Als friedlichste Waffe aller Revolutionen haben wohl populäre Musiklieferanten nach wie vor von ihrer Schlagkraft nichts eingebüßt. In Zeiten des kalten Krieges dagegen errichteten diese eine ungebrochene Brücke zwischen westlichen und ideologisch eingezäunten Jugendkulturen, vermochten selbst verblendete Spitzbärte das »Yeah,Yeah, Yeah« nicht für mundtot zu erklären.
Irgendwann im Jahr 1980 ließ sich der damalige West-Berliner Senat unter Mithilfe des von der Stasi verhassten, propagandistischen und für jeden sozialistisch erzogenen Teenager als Heiligen Gral erstrahlenden Radiosender im amerikanischen Sektor dazu hinreißen, für ein mächtiges Popspektakel vor dem Reichstagsgebäude den organisatorischen Weg zu ebnen.
Heute als Mutter aller Mauer-Konzerte und historisches Ereignis geltend, war der besagte 30. August im selben Jahr als eine kompositorische Hommage an "Berlin" den britischen Bombastikern Barclay James Harvest geschuldet, welche der Einladung nachgaben, diesem Gratis-Freiluftevent gebührend die Krone aufzusetzen.
Noch während 130 Fernreisebusse westdeutsche Fans durch das damalige Zonengebiet und die örtlichen Verkehrsbetriebe im Ein-Minuten Takt zur großen Wiese vorm Reichstag karrten, und die matrosenbemützte Anette Humpe ihr »…ich fühl mich gut, ich steh auf Berlin« übers Areal trällerte, riegelten selbsternannte Unrechtshüter sämtliche Ost-Berliner Straßen zwischen Brandenburger Tor und Unter den Linden hermetisch ab.
Etwa drei Dutzend (bei späteren Veranstaltungen dieser Art sollten es bedeutend mehr werden) euphorisierte ostdeutsche Freunde gepflegter Rockmusik scheiterten am Versuch, in den Genuss weniger Töne ihrer Platten-Idole zu gelangen und wurden unter empörten Protesten westlicher Journalien für Stunden weggesperrt.
Die grauen Eminenzen in Berlin-Weissensee zählten skurrilerweise diese Mauer-nahen Veranstaltungen fortan zu perfide inszenierten Angriffen des verhassten Klassenfeindes auf die doch so friedfertige, umzäunte bzw. streng bewachte Insel-Republik.
Doch die Lunte brannte, wenn auch mit Verzögerung, sie brannte. So erschallten an den Pfingstfeiertagen 1987, als u. a. David Bowie vor dem Reichstagsgebäude aufspielte, zum ersten Mal mit zunehmendem Echo »Die Mauer muss weg«-Parolen, welchen die DDR-Obrigkeiten furchterfüllt mit phonstarken Lautsprechern entgegentraten und nachgiebig ein kleines Loch im 'antiimperialistischen Schutzwall' für westliche Rockstars freigaben.
Den Mannen um John Lees und Les Holroyd jedenfalls gebührt unangefochten der Ruhm, mit ihrem Spektakel vor 175 000 Zuschauern und unzähligen Zuhörern vor den heimischen ostdeutschen Kofferheulen eine historisch bedeutende Konzertreihe begründet und mit ihren mauererschütternden Synthesizer-Ouvertüren eine nachahmende Signalwirkung gesetzt zu haben.
So erfährt nun dieses filmisch konservierte 'Umsonst und Draußen'-Spektakel dreißig Jahre später die technisch wohl aufwendigste Aufbereitung der wohlbekannten, verstümmelten Fassung des ursprünglichen 21/2-Stunden Auftrittes.
Entgegen dem ansonsten schaumschlagenden Bombast von Barclay James Harvest-Arrangements schielten die bodenständigen Briten nie nach aufwendiger Bühnen-Gigantomanie oder etwaigem theatralischen Firlefanz. So genossen die anwesenden Massen auf Westberliner Rasen, vom Regenwetter halbwegs verschont, ihr kleines Woodstock-Gefühl mit schmalzigen Pop-Hymnen und schwelgerischem Rock-Pathos, und in Gewissheit zahlreicher sehnsuchtverzehrender Ohren hinter grauem Beton und Selbstschussanlagen.
Bisher als verfemter Antichrist und imperialistisches Teufelszeug noch ans Kreuz genagelt, erhielt der Rock'n'Roll hinter dem Eisernen Vorhang mit der Flucht nach vorn zunehmende Absolution, lüfteten die DDR-Mächtigen wenige Jahre später mit eigenen international besetzten Open-Airs die einstige Käseglocke.
So verteilten die progressiven Weichspüler an diesem denkwürdigen Samstagabend nicht nur ihre musikalischen Bananen hinüber bis zur Lindenallee, sondern aktivierten das Ventil für ein jugendliches und mental auf Westen eingestelltes Aufbegehren, und den Drang nach einem ungewohnten Puzzle-Teilchen Freiheit.
Auch wenn, damaligen Soundproblemen geschuldet, nur eine beschnittene Endproduktion dieses Mammut-Konzertes überliefert ist, hat selbiges bis heute nichts von seiner historischen Faszination verloren, erfährt nun dieses filmisch konservierte Live-Spektakel die wohl technisch aufwendigste Aufbereitung auf einer DVD.
Trotz hochauflösender Bild-Aufbügelung vermochte man dem grobkörnigen und verwaschenen Antlitz des historischen Video-Materials nichts hinzuzusetzen, welches durch den Umstand der statischen Kameraführung allenthalben Verstärkung erhält. Beim Ton hingegen konnte man insbesondere dem Rundum-DTS-Format eine gewisse Transparenz abringen, obwohl man sich durchaus etwas mehr Schmackes gewünscht hätte. Klare Mankos dieser Veröffentlichung sind die karge Songauswahl und ein verwurstetes "Berlin", welches dem kleinen Einführungsfilmchen als Opfergabe dient und somit die Gänsehäutchen sträflich vermindert. Da hilft auch nicht der Lückenfüller einer reanimierten 20-minütigen Salbung auf die Zeit, als noch Wolstenholmes sakrale Kunststücke das damals anspruchsvollere Soundgerüst der Briten prägten.
Einerseits mit Dankbarkeit, diese Zeit, als Petting und Konsumsehnsüchte, nebst der Jagd nach der nächsten West-Platte in den eingemauerten jugendlichen Köpfen spukten, überstanden zu haben, anderseits mit einem Hauch Wehmut, prunkvollen Stadion Rock bzw. Hymnen für Generationen nun mehr als angestaubtes Relikt zu betrauern, ist dieses kurzweilige Filmvergnügen allemal ein musikalisches Mahnmal gegen das Vergessen.
Auch wenn Kohls versprochene blühende Landschaften ihre Knospen in den vergangenen zwei Jahrzehnten noch verschlossen hielten, hatte dagegen der Drang nach guter Musik immer etwas Unaufhaltsames, nötigten selbst Gitarren zum Mauerbröckeln, auch die in unseren Köpfen. Ein Grund mehr, diese musikalische Antiquität zum runden Mauerfalls-Jubiläum wieder ins strapazierte Gedächtnis zu rücken, und bei "Memory Of The Martyrs", den Fluchtopfern an einer einst absurden Grenze zu gedenken.
Line-up:
John Lees (lead guitar, ac-guitar)
Mel Pritchard (drums, percussion)
Les Holroyd (bass-guitar, e-guitar,ac-guitar, keys, vocals)
Guest Musicians
Kevin McAlea (keys, saxophone)
Colin Browne (keys, guitar, bass-guitar, vocals)
Tracklist |
01:Berlin
02:Loving Is Easy
03:Mockingbird
04:Sip Of Wine
05:Nova Lepidoptera
06:In Memory Of The Martyrs
07:Life Is For Living
08:Child Of The Universe
09:Hymn
(Bonus: Promotionfilm 1975)
01:Jonathan
02:Titles
03:Moongirl
04:One Night
05:Beyond The Grave
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