Oh Canada! Wenn eine Prog-Band aus der Gegend um Toronto stammt, dann ist es schon nicht so arg unwahrscheinlich, dass die Aura Rushs ein wenig auf die Erben aus der Nachbarschaft ausstrahlt. Bei Bolus, die mit "Delayed Reaction" ihr zweites Studioalbum rausbringen, ist das passiert und hat für durchaus positive Effekte gesorgt. Die Musik zeichnet sich aus durch Detailverliebtheit nach außen und Tiefgang nach innen, durch komplexe Strukturen auf der einen und zugleich intuitives Songwriting auf der anderen Seite - eine Kombination, die nicht viele beherrschen, Bolus schon.
So hat ein Song wie "Instructions" mit seinen acht Minuten hier 'Normallänge', steckt voller Wechsel zwischen treibenden Schrubbel-Riffs mit Brummel-Bässen und introvertierten Atmo-Breaks von pittoreskem Retro-Charme. Und viel erinnert an besagte progressive Dreifaltigkeit ... Verzerrte Gitarren spielen dynamische Arpeggien, und von einer Sekunde auf die nächste wechselt der Sound in cleane oder akustische Klanggebilde mit so viel auffälligem Eigenleben, dass der Unterschied zwischen Rhythmus- und Leadgitarre zuweilen wegschmilzt. Dazu brillieren die quicklebendigen Bassfiguren und nicht zuletzt ein kreatives, pointiertes und gerne schon mal provozierend ungerades, aber nicht aufdringliches Drumming, gespickt mit pfiffigen Fills.
"White Window" ist so ein Song, der schon fast zu 'Rushig' ist, um wahr zu sein. An die Früh- bis Mittachtziger fühlt man sich erinnert - weniger heavy, eher filigran. Hier erzeugen die glitzernden, schwebeleichten Clean-Tonfolgen und die eindringliche Gesangsmelodie eine ergreifende Magie! Mitten in "Home Is Where The Heart Is", zum Beispiel, klingt aber mal ein Gitarrensolo so urtümlich wie Alex Lifeson in den 'wilden' 70ern. Genau wie Rush sind übrigens auch Bolus eine mächtig effektive Minimalistentruppe! Die Band besteht nach dem Ausstieg des Gründungs-Bassisten bloß aus Nick Karch und Mat Keselman, die mit Hirn und Händen Großes vollbringen. Nur live, da ist man zu viert. Im Schnitt also zu dritt; passt irgendwie ...
Aber nicht, dass jemand mir Bolus als kreative Flachwurzler abstempelt - man hört deren Erbe, doch die musikalische DNA ist eine eigene. Der Gesang erinnert mehr an Peter Nicholls von IQ oder Stuart Nicholson von Galahad. Das Keyboard wird eher im Bereich Klavier, Mellotron und Hammond genutzt; die entstehenden Atmosphären, unter anderem bei "Push To Exit" sind mitunter neo-proggig. "Outside" lullt den Hörer mit einem kristallenen Netz aus Akustik-Arpeggien, zarten Backings und hauchzarter Querflöte in eine märchenhafte Atmosphäre ein. Die Referenzen gehen hier eher Richtung Yes und Genesis. Und die heavy Riffs und schweren Grooves, die teils in "Those Who Saved Us" und "Paranoia Safehouse" auftauchen sind so Metal-lastig, dass sie eine 'progressive' Generation weiter in Richtung Dream Theater oder Spock's Beard springen.
Textlich servieren uns Bolus schwere Kost, teils gut verschlüsselt - aber das weckt die Abenteuerlust des Prog-Philosophen! "White Window" beklagt die Entfremdung in der virtuellen Computerwelt; "He And I Alike" dreht sich um zwei Menschen, die einander über die Jahre fremd geworden sind ... oder doch um ein und denselben? Mehrfach besingt man die Dummheit der menschlichen Zivilisation, die sich auf Planet Erde ihr eigenes Grab schaufelt. Auch das vordergründig eher komische, aber wohl doch tiefgründigere "Postman" passt als Metapher irgendwie dazu ... über den genervten Briefträger, der seine Macht über andere ausspielt, indem er deren Briefe einfach in die Tonne wirft:
»... just a little fun before I'm done / I'll just throw it out / And if I ever get caught then I''ll just run / Never get that winning bid / And cousin thinks your dead / Cos I'll throw it out / So you'll never ever have your message read«
Hat was Präapokalyptisches. Eigentlich bewegt er sich schon längst über dem Abgrund, der all zu menschliche 'Postman' - siehe Plattencover ... 'delayed reaction' ... ja Mensch, das passt zusammen!
Besonders schön und eindrucksvoll sind die Lyrics von "Push To Exit". Es ist ein Stück, in dem es ums Sterben geht - um die letzten Momente eines Menschen im Diesseits und um die Gedanken derer, die sich um ihn versammelt haben, um Abschied zu nehmen. Und im Dreiteiler "Drawing A House In Perspective" wagen Bolus ein Experiment. In drei Songs passiert praktisch dasselbe, wie Mat Keselman RockTimes: »Person A trägt Person B in ein Haus und legt sie auf ein Bett, schließt die Vorhänge, macht ein Feuer im Kamin. Auf dem Tisch steht ein Paket, das jemand mit einem Messer öffnet. Später trägt Person A Person B die Treppen hinauf und legt sie in eine Badewanne. Später kommt Person B wieder herunter und sieht, wie Person A an der Eingangstür steht ...« Warum 'Person A' und 'Person B'? Bolus wollen zeigen, wie wichtig der Kontext ist.
Einmal geht es um ein Hochzeitspärchen, und der Bräutigam trägt seine Braut 'über die Schwelle' ins neue Haus. Beim nächsten Mal sind es zwei Ganoven, die gerade ihren großen Coup vollendet haben - einer wurde schwer verletzt und sein Komplize muss ihn tragen. Beim dritten Mal findet jemand einen hilflosen, verletzten Mann, trägt ihn zu sich nach Hause und versucht herauszufinden, mit wem er es zu tun hat. Es ist ungeheuer spannend, die Lyrics auch zum x-ten Male zu sezieren - schnell zu begreifen, wie das Paket auf dem Tisch vom Hochzeitsgeschenk zur ergaunerten Beute wird, und langsam zu ergründen, wer oder was hinter dem Läuten von Telefon und Türglocke jeweils zum Ende stecken könnte. Und die musikalischen Stimmungen in den drei Teilen sind nicht weniger facettenreich und unterschiedlich und doch ineinander greifend wie die changierenden (Kon)Texte, mit denen sie zu etwas Großem werden. Heißer Tipp aus Kanada!
Line-up:
Nick Karch (vocals, guitars, bass, keyboards)
Mat Keselman (drums, percussion, vocals, flute)
Tracklist |
01:Those Who Saved Us (6:19)
02:Outside (6:08)
03:Instructions (8:11)
04:Postman (3:52)
05:Push To Exit (6:38)
06:White Window (7:01)
07:He And I Alike (6:16)
08:Doorstep Thoughts (2:10)
Drawing A House In Perspective:
09:Home Is Where The Heart Is (8:18)
10:Paranoia Safehouse (7:23)
11:Steps Under Shelter (7:52)
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Externe Links:
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