Sucht man ein typisches Beispiel für eine der unterbewertetsten Bands der Rockmusik, so stößt man unweigerlich schon nach kurzer Zeit auf den Namen Cactus.
In den Jahren zwischen 1970 und 1972 wurden sie von den Kritikern mit so 'geschmackvollen' Kosenamen wie »Viertklassige Led Zeppelin
-Kopie, amerikanische Black Sabbath Version ohne Kruzifix« oder »Grand Funk für arme Leute« betitelt. Dennoch bauten sich Cactus mit ihrem schweren Rocksound eine feste Fangemeinde auf. Die in dieser Zeit entstandenen vier Alben "Cactus" (1970), "One Way...Or Another" (1971), "Restrictions" (1971) und "'Ot 'N' Sweaty" (1972, allerdings schon nicht mehr in Originalbesetzung) gingen jeweils mehrere hunderttausend Mal über die Ladentische und brachten die Band in die Top 50 der Album-Charts. Der ganz große Erfolg blieb jedoch aus.
Cactus formierte sich 1969 in New York nach dem Split von Vanilla Fudge. Eigentlich wollten Carmine Appice (drums) und Tim Bogert (bass) ein neues Power-Trio mit dem englischen Gitarristen Jeff Beck bilden. Der jedoch verunglückte schwer mit dem Auto und fiel für lange Zeit aus. So heuerten die Beiden den Gitarristen Jim McCarty und Rusty Day (vocals, harp) an, die zuvor vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit Mitch Ryder bekannt wurden. McCarty spielte außerdem beim Buddy Miles Express eine wichtige Rolle. Durch ihr technisches Können und ihrem Hang zur Perfektion wurden Cactus schnell zu einer gefragten Festival-Gruppe, denn gerade in dieser Konzertatmosphäre konnte sich die Band voll entfalten. (Nachzuhören auf der Doppel CD "The Live Tapes"). Trotzdem waren Bogert und Appice nicht böse, als der wieder genesene Jeff Beck erneut rief und so die neue Supergroup Beck, Bogert & Appice auf den Weg gebracht wurde, wenn auch nicht für lange Zeit.
Vierunddreißig Jahre später nun die Reunion von Cactus. Im Rahmen seiner im Moment nicht enden wollenden Phase der Kreativität ( Travers & Appice, Vanilla Fudge) gelang es Carmine Appice, auch Jim McCarty wieder mit ins Boot zu holen. So musste lediglich Rusty Day ersetzt werden, der sich inzwischen von dieser Welt verabschiedet hat. Als neuen Shouter verpflichtete man Jimmy Kunes, der früher das Mikrofon von Savoy Brown schwang und über eine ähnlich raue Stimme verfügt wie sein Vorgänger. Die Harmonika übernahm auf der neuen CD Lizards Member Randy Pratt.
Die Songs entstanden in einer vierjährigen Schaffensperiode, die im Jahr 2001 begann. Unter Beachtung des bandeigenen Erbes stellten die vier Musiker ganz ähnliche Songs zusammen, wie man sie von Cactus aus den Seventies gewohnt war. Heraus kam dreckiger, rauer Heavy Rock mit klaren Gitarrenpassagen, teilweise auch als Slide gespielt.
Vorwiegend gibt es richtig Druck, aber Ausnahmen bestätigen die Regel. So traute ich meinen Ohren kaum, als mitten im Powerrock mit "Blues For Mr. Day" ein Akustik Blues-Instrumental an den früheren Sänger erinnerte und mich völlig aus dem Rhythmus brachte. Aber das auch nur für 1,5 Minuten. Dann war die alte Brachialgewalt wieder hergestellt.
Auf dieser CD gibt es eigentlich keinen Schwachpunkt, sieht man mal von "Brother's Keeper" ab, das für mich doch zu sehr in Funk-Gefilde abdriftet und hier irgendwie fehl am Platz ist.
Ansonsten dominieren kräftige Midtempo-Songs mit einer richtig guten Gitarrenarbeit. Über die Rhythmussektion brauche ich ja wohl kein Wort mehr zu verlieren. Da werkeln schließlich zwei Mitglieder der Rock 'n' Roll Hall Of Fame.
Anspieltipps zu erwähnen ist gar nicht so einfach, da es bekanntlich verschiedene Geschmäcker gibt. (Jetzt sind aber 5 € fürs Phrasenschwein fällig!) Trotzdem ist mir der Slow-Blues "Nite To Days" am Ehesten im Ohr hängen geblieben, aber auch "The Groover" mit seiner schönen Harmonika lässt die Eingeweide hüpfen.
Diese CD macht so richtig Spaß. Ich hoffe doch stark, dass sich Cactus auf der geplanten Europa- und Deutschland-Tour auch in meine Nähe verirren, denn die Aussichten diese Songs in einer Live-Version zu erleben, macht mich doch sehr neugierig. Da kommen richtig geile Konzerte auf uns alle zu. Also immer schön die Tourdates in RockTimes studieren. Es lohnt sich!!
Spielzeit: 63:25 Minuten, Medium: CD, Escapi Music, 2006, Heavy Rock
1:Doing Time 2:Muscle And Soul 3:Cactus Music 4:The Groover 5:Hi In The City 6:Nite To Days 7:Livin' For Today 8:Shine 9:Electric Blue 10:Brother's Keeper 11: Blues For Mr. Day 12: Blame/Game 13:Gone Train Gone 14:Jazzed
Jürgen Bauerochse, 20.07.2006
|