Lost In Life war großartig! Keine einfachen Voraussetzungen für den Nachfolger. Da hat es irgendwie gepasst, dass Casual Silence 'auf halber Strecke' zwischen den 'regulären' Alben vier und fünf noch ein akustisches Coveralbum, "Acoustic Fields" eingeschoben haben, um ein bisschen 'abzukühlen' und neue kreative Kraft zu schöpfen. Das hat bestens geklappt - "Vertical Horizon" hält problemlos das Niveau seines Vorgängers. Und außerdem haben die Akustik-Sessions bei den Niederländern offenbar die Sehnsucht nach 'Strom' genährt. Denn die Band geht insgesamt heavier zur Sache. So der Eindruck, der mich nach einiger Überlegung dazu veranlasst, die gute Stunde auf "Vertical Horizon" 'Prog Metal' statt 'Prog Rock' zu nennen. Eigentlich eine irrwitzige Entscheidung - Casual Silence spazieren hier leger auf einem ominösen schmalen Grat.
Das geht schon mit dem Opener "The Other Side" los. Der verströmt zunächst Hard Rock-Flair. Auffällig ist Henry Meeuws' verstärkter Hammond-Einsatz - bei weitem nicht nur hier - im dynamischen Zusammenspiel mit gleich zwei Gitarren. Die Strophe mit dem charismatischen Gesang Rob Laarhovens nimmt sich zwar zurück, aber da sind diese ziemlich unvermittelten Einsprengsel von heavy Gitarren ... das ist typisch Casual Silence! In jedem Takt wimmelt es von Details. Ruhig und balladenhaft oder heavy und dramatisch - da passt bei Casual Silence oft kaum ein Drum-Schlag dazwischen. Der Spannungs-Seismograph verzeichnet viele ungeahnte Ausschläge, fürwahr!
Und auch typisch Casual Silence: Die eingängigen, hymnischen Melodien, in denen ebenfalls so viel feinfühlige Detailarbeit steckt, dass sie die urplötzlichen Wandlungen zwischen lyrisch und dramatisch perfekt mitmachen. Typisch - schon wieder: Der mehrstimmige Satzgesang mit deutlich identifizierbaren Stimmen in unterschiedlichen Höhenlagen. Zu deren Gunsten verzichtet die Band auf künstlich allzu aufgemotzten Bombast in den Refrains - sie können's eben auch 'natürlich'. Der Chorgesang verströmt schon die ein oder andere Portion Pathos, macht die Chose theatralisch (was wiederum prima zu den emotionalen Melodien passt). Im Prog Metal-Bereich erinnert das schon mal an Shadow Gallery ("Stand Of Tears", "Dangerous Disguise").
Aber auch andere Genres haben ihre Spuren hinterlassen. In straighten Gefilden erinnert der pompöse Gesang schon mal an Saga ("Changing Lanes"). Retro-Synthies wie in "Now You're Gone" gibt es ähnlich auch bei Galleon. Geheimnisvoll-mysteriöse Prog-Atmosphären einschließlich uriger Orgeln könnten auch zu Neo Prog-Gruppen wie IQ Galahad, Arena oder Pendragon passen. Im Titeltrack "Vertical Horizon", zum Beispiel. Aber dann ist diese emotionale Komplexität bei Casual Silence wiederum so eigenartig, dass jegliche Vergleiche nur mit Momentaufnahmen der Musik anzustellen sind. Wohin zum Beispiel mit dem genialen, deutlich metallisch beeinflussten Instrumentalteil aus einer Hammond und zwei Gitarren - eine, die heavy rifft, und eine, die so gefühlvoll, beinahe singend soliert? Und der originelle Kanon-Part in der Mitte? Alles typisch ... naja, schon klar.
Prachtstücke des Albums sind der Titeltrack, der Gier und Größenwahn anprangert (»And I believe that I could fly, fake a vertical horizon / My money backs my pride, cash cleansing of the soul«) ... und "My 5th Season". Wow, was für ein Teil! Und der Beweis dafür, dass die Band in der Lage ist, ähnliche Perlen wie "Memories" auf dem Vorgängeralbum wieder aufs Neue zu produzieren. Das Stück startet süßlich-traurig, lyrisch und introvertiert und steigert sich zu einem dramatisch-elegischen Hörspiel. Die fast rhapsodischen Wechsel sind sehr aufregend und spiegeln letztlich auch das Wechselbad aus Verzweiflung, Wut und Wehmut in den Lyrics wieder. Besonders beeindruckend wirkt auch, wie der Refrain bei jedem Mal in völlig anderem Gewand daherkommt.
Casual Silence spielen mit dem Gefühlszentrum des Hörers ein scharfsinniges, tiefgehendes, teil surreales Katz-und-Maus-Spiel. Und sie tun dies mit einer wirklich sehr eigenwilligen Art, Songs zu schreiben. Diese sind sehr heterogen und trotzdem kohärent - episch und zum Teil sogar sprunghaft, zusammengehalten von ausgezeichneten instrumentalen Prog-Spielereien. Diese Niederländer gehören für mich zu den erfrischendsten Musikmachern der Prog-Branche - "Vertical Horizon" ist ein ganz fettes Ausrufezeichen hinter dieser Feststellung.
Line-up:
Rob Laarhoven (vocals)
Henry Meeuws (keyboards, Hammond & guitars)
Eric Smits (bass & vocals)
Ernst Le Cocq d'Armandville (guitars & vocals)
Igor Koopmans (drums & percussion)
Mark van Dijk (guitars)
Tracklist |
Part One
01:The Other Side (06:23)
02:The Chance (7:18)
03:Vertical Horizon (7:24)
04:Now You're Gone (5:53)
05:My 5th Season (8:24)
06:Changing Landes (7:10)
07:Stand Of Tears (5:24)
08:The Curtain Falls (7:28)
09:Dangerous Disguise (8:16)
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