Cryptex / Good Morning, How Did You Live?
Good Morning, How Did You Live? Spielzeit: 56:33
Medium: CD
Label: SAOL/H'Art Music, 2011
Stil: Progressive Crossover


Review vom 31.03.2011


Steve Braun
»Lebst du schon, oder wohnst du noch?« Dieser sinnbefreite Spruch eines umstrittenen Möbelhauses fällt einem angesichts des Albumtitels spontan ein. "Good Morning, How Did You Live?" Danke der Nachfrage, angesichts dieser bärenstarken Scheibe zur Zeit hervorragend!
Beim Bandnamen "Cryptex" drängen sich ebenfalls merkwürdige Vergleiche auf. Ist das ein neuer Kunststoff für Textilien? Oder bezieht man sich gar auf das von Erfolgsautor Dan Brown in seinem Megaseller "Das Sakrileg" geprägte Kunstwort aus Kryptologie und Codex? Auch wenn letzterer Ansatz eine Erfolg versprechende Recherche anrät: Das Wortspiel will nicht so recht zünden, was aber Geschmackssache ist.
Drei junge Männer aus Salzgitter haben sich fast ein dreiviertel Jahr Zeit genommen, um ihr Debütalbum mit dem nötigen Schliff zu veredeln. In einer schnelllebigen Ära - »Zeit ist Geld« - ist das durchaus bemerkenswert. Liebe zum Detail mag hier ebenso eingeflossen sein, wie ein nicht zu verhehlender Hang zum surrealen Wahnsinn. Man kann den Sänger und Multiinstrumentalisten Simon Moskon sowie seine Mitstreiter Martin Linke (Gitarren) und Ramón Fleig - allesamt zwischen 21 und 25 Jahre jung - einfach in keine der gängigen Schubladen stecken, die wir Musikjournalisten so gerne bemühen.
Zunächst ist da mal ein Sänger zu verzeichnen, der die richtigen Hooks trifft und in geradezu hymnische Refrains - wobei sich hier gelegentlich der Vergleich mit Queen aufdrängt - zu führen vermag. Das Songwriting ist geradezu als genial zu bezeichnen, weil überraschende Wendungen in den Arrangements für gekonnte Abwechslung sorgen. Dabei bedient man sich ungewöhnlichster Stilmittel und scheut sich dabei nicht, jede unüberbrückbar erscheinende Grenze frech und fröhlich zu übertreten. Richtig erfrischend kommt dieses erste 'richtige' Album nach der 2008er EP
Even Nature Will Be Thrilled daher und fegt auf originelle Art und Weise den Muff aus verstaubten Gehörgängen.
Nach einem Intro legt "Hicksville, Habitus And Itchy Feet" eine gelungene Mixtur aus progressivem Art Rock und dem adäquaten Metal-Pendant vor. Das folgende "Dance Of A Strange Folk" hält, was der Name verspricht: verschärfter Folk in 'Rotz-Rock'-Manier mit A-capella-Einlagen - wirklich sehr 'strange'. Vor allem weil mit "Freeride" und "Bagheera" noch zwei stark 'punkig' geprägte Tracks, die allerdings mit progressiven Einschüben nicht geizen, nachgeschoben werden. Was geht denn hier ab?
"It's Mine" bedient sich des Woodstock-Feelings. Man denkt - nicht nur wegen des 'nöligen' Gesangs und des Harpsolos - unwillkürlich an Crosby Stills Nash & Young. Völlig abgefahren präsentiert sich "Gypsy's Lullaby" irgendwo zwischen Renaissance, spanischem Flamenco, Polka und der Musik der australischen Ureinwohner, den Aborigines. Zugegebenermaßen mag dies so manchem Hörer Kopfschmerzen bereiten, man kann es aber auch rundheraus als genial bezeichnen.
Ungeniert zitieren Cryptex bei "Camden Town" die britischen Folk Prog-Veteranen Jethro Tull und auch das gelingt überzeugend. Mit teuflisch-verschärften Riffs unterlegt man den Höllenfürsten "Leviathan" so, wie man das erwarten darf: Metal, der durchaus Elemente klassischer Musik zu integrieren vermag. "The Big Easy" beginnt als Pianoballade, um sich in einen anspruchsvollen Popsong zu steigern. Auf dem "Sgt. Pepper's..."-Album der Beatles wäre ein angemessener Platz für diesen Song gewesen. Mit "Mom" und "Alois" folgen zwei balladeske Zwischenspiele, bei denen man persönliche Bezüge zu erkennen glaubt.
Nun setzt Cryptex zum Endspurt an - und wie... Arabeske Klänge, ausgehend von der eingesetzten Sansula leiten "Most Lovable Monster" in einen progressiven Rocker, der sich irgendwo zwischen Coheed & Cambria und Dream Theater bewegt. "Grief And Dispair" schließt hier folgerichtig an und mit dem Longtrack "A Colour Called Gently" beschert man "Good Morning, How Do You Live?" einen krönenden Abschluss, der das Kaliber der frühen Genesis aufweist: ein intelligentes Arrangement - ebenso virtuos wie intensiv vorgetragen. Eine Klassenummer, die mit einem Gospelchor ausklingt...
Der 'ohr-ale' Hochgenuss wird durch ein hochwertiges Digipak mit einem dicken, schön gestalteten Booklet abgerundet.
Ganz klar: Die Höchstwertung wird mit 9 von 10 RockTimes-Uhren nur knapp verfehlt, denn ein wenig Luft nach oben muss nach dem Debüt unbedingt bleiben. Cryptex scheint ein ganz heißer Kandidat für den 'Newcomer des Jahres' zu sein - jedenfalls für mich!!
Line-up:
Simon Moskon (vocals, bass, piano, keyboards, bluesharp, didgeridoo)
Ramón Fleig (drums, percussions, cajón, background vocals)
Martin Linke (lead and rhythm guitars, sansula, background vocals)
Tracklist
01:Intro (0:45)
02:Hicksville, Habitus And Itchy Feet (3:22)
03:Dance Of The Strange Folk (2:50)
04:Freeride (2:10)
05:Bagheera (2:50)
06:It's Mine (5:01)
07:Gypsy's Lullaby (3:31)
08:Camden Town (2:24)
09:Leviathan (2:49)
10:The Big Easy (3:24)
11:Mom (3:41)
12:Alois (3:14)
13:Most Loveable Monster (3:47)
14:Grief And Dispair (4:01)
15:A Colour Called Gently (11:06)
16:Outro (1:47)
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