Crystal Grenade ist ein großes Kunstwerk. Das äußere Erscheinungsbild, die Stimmung der Musik, um die es eigentlich geht; die poetischen Texte und der Gesang, der sie zum Ausdruck bringt - Crystal Grenade ist ein großes, kleines Kunstwerk. Groß, weil es wirkt. Und klein, weil Crystal Grenade nur aus einer einzigen Künstlerin besteht. Carol Hodge, Manchester, Jahrgang 1982, begibt sich ins spätviktorianische Jahr 1892. Als Crystal Grenade gibt sie sich rein äußerlich, in edel verziertem Korsett und mit aufwändiger Huttracht, wie eine geheimnisvolle Figur, die Lewis Carrolls 'Alice im Wunderland' entsprungen sein sollte. Das Album "Lo! And Behold" klingt schließlich auch ein bisschen mysteriös und verwunschen.
Binnen weniger als einer Minute erzeugt das instrumentale und geräuschgesättigte "Welcome To The Freak Show" eine surreale Umgebung: Man wähnt sich in einer schummrigen Gasse - von hüben dominiert die hektisch-überdrehte Geräuschkulisse eines Jahrmarkts, aber drüben verströmt der Klang eines Klaviers in einem Pub eine magische Anziehungskraft. Arthur Conan Doyle oder Charles Dickens könnten solche Orte literarisch skizziert haben, zu denen die Songs von Crystal Grenade passen.
Großes Aufhebens macht sie nicht. Sie singt und spielt Klavier dazu. Lediglich bei "Take Aim!" und "Shape Of Things" tauchen außerdem - auch von ihr gespielt? - Celli auf, hier mit nervösen Staccatos, dort als weiche Unterlage. Aber das ist eine große Ausnahme - das Klavier ist das Instrument der Wahl und es ist wesentlich mehr als nur eine Begleitung. Das Piano allein würde aus jedem einzelnen Stück kleine Studien machen, teils sinnlich berührend, teils impulsiv aufwühlend. Romantisch mit Ragtime - ein Hauch von Soul, ein wenig Jazz. Spannende Harmonien und zauberhafte, aber launische Melodien.
Der Gesang ist mehr als nur Gesang, sondern eine vokale Performance. Theatralik ist Carol Hodge schließlich nicht fremd - sie war Teil der 'Last Supper'-Tour des ehemaligen Crass-Anarcho-Punkers Steve Ignorant. Als Crystal Grenade beeindruckt sie mit der Leistung einer wahren Ausnahmekünstlerin. Ihr Gesang ist erst fragil und defensiv, und im nächsten Moment aufgeputscht und expressiv. Impressionismus in Noten zu Poesie in Grautönen - die Texte von Crystal Grenade sind, genau wie die Musik, mithin bedrückend und zugleich von einer seltenen Schönheit.
»A piece of paper to express
The grey I feel, the burden I depress
The leaden handcuffs, self-imposed
The shackled soul, disappearing as it moans
Dark matter pushing in to the sunken core
I hide it all away
The drifting listlessness I feel«
("Changed")
Die Songs entfalten trotz der spärlichen Instrumentierung eine überwältigende Dynamik. Die ruhigeren Nummern - das gespenstische "Changed" und das lyrisch klagende "Shape Of Things" - sind keine Balladen, sondern sinnliche Introspektiven. Und Stücke wie "You Could Have Lived", "1892 Man", "Nothing To Do With Me" und vor allem "Take Aim!" lassen einen beim Zuhören regelmäßig erstarren, wenn dieses Piano plötzlich zu kräftigen Staccatos ansetzt und Carol Hodge nahezu schreit. Das tut sie freilich mit perfekter Stimmkontrolle - welch ein extrem gut ausgeprägtes Organ, und welch ein agogisches Talent! »A voice of gentle pain or unapologetic rage«, heißt es auf ihrem eigenen Werbeplakat in Retro-Schwarzweiß.
Zweifelsohne liefert Crystal Grenade mit "Go Round Twice" ihr absolutes Meisterstück ab. Der Song beginnt zart und melancholisch, bis sich dann dieser simple, aber so packende Refrain wiederholt und wiederholt und immerzu ins Ekstatische steigert und sich eindrucksvoll im Gehör verewigt: »Give me just enough rope to go round twice...« Es sind ganz kleine Großartigkeiten, die diesen Song unzählige Male zum Hinhörer machen - Dinge wie die intuitiven Tempowechsel werden einem erst richtig bewusst, wenn man es nach vielen Hördurchgängen schafft, das Gefühl abzuschalten und wirklich analytisch zuzuhören.
Dafür ist das Album "Lo! And Behold" aber gar nicht gemacht. Die (viel zu wenigen) knapp 37 Minuten zum Hören sind komplett fühlbar. So etwas - das wage ich zu behaupten - ist mit einer Band gar nicht möglich. So etwas funktioniert nur mit einem Menschen und einer Stimme und einem Instrument. Carol Hodge spielt ihres nur mit sieben Fingern. Grund ist eine seltene, angeborene Handdeformation; sie geht sehr offen damit um. Das Debütalbum von Crystal Grenade ist ein Produkt von atemberaubendem Talent - intim, intelligent und intensiv. Ob Carol Hodge das gerne hört? Für mich ist sie die Fiona Apple Manchesters. Eine Perle fürs CD-Regal.
Line-up:
Crystal Grenade (voice, piano)
Nick Zart (additional instrumentation - #1)
Tracklist |
01:Welcome To The Freak Show (0:53)
02:You Could Have Lived (3:24)
03:1892 Man (3:04)
04:Lost For Words (4:42)
05:Changed (3:4)
06:Take Aim! (4:02)
07:Go Round Twice (4:28)
08:Leaving... (2:03)
09:Shape Of Things (2:47)
10:Nothing To Do With Me (3:26)
11:For Alison (What's Left Behind) [4:08]
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