Dritte Wahl / Gib Acht!
Gib Acht! Spielzeit: 58:07
Medium: CD
Label: Dritte Wahl Records, 2010
Stil: Punk Rock


Review vom 15.12.2010


Moritz Alves
Was habe ich mich auf dieses Album gefreut! Ganze fünf Jahre musste es dauern, bis die Rostocker Punk Rock-Institution Dritte Wahl den Nachfolger zum 2005er Album "Fortschritt" vorlegte. In der Zwischenzeit ist viel passiert: War das letzte Studioalbum noch mit dem mittlerweile an Krebs gestorbenen Bassisten Marko 'Busch'n' Busch (29. April 1969 - 17. Januar 2005) entstanden, mussten die Rostocker diesen Schicksalsschlag erst mal verdauen. Seit einigen Jahren hat man im ehemaligen Crushing Caspars-Bassisten Stefan einen neuen Mann für die tiefen Töne gefunden, der sich bestens ins Bandgefüge einfügt und den Verlust Busch'ns nahezu vergessen lässt. Das 20-jährige Bandjubiläum konnte somit vor zwei Jahren unter dem Motto "Kinder, wie die Zeit vergeht" angemessen begangen werden.
Dennoch muss es verdammt schwer für eine Band sein, ein gänzlich neues Studioalbum in Angriff zu nehmen, wenn ein entscheidender Stützpfeiler fehlt. Somit ist es nicht weiter verwunderlich, dass Dritte Wahl ein halbes Jahrzehnt benötigten, um mit ihrem achten Studioalbum, übrigens treffend "Gib Acht!" betitelt, fertig zu werden. Doch das Warten hat sich wirklich gelohnt - so viel wird schlagartig klar, sobald man die Silberscheibe zum Rotieren bringt!
Das Trio hat auch im 22. Jahr seines Bestehens nichts von seiner Durchschlagskraft und Relevanz verloren, sondern rockt und punkt hier auf 14 Titeln sehr eindrucksvoll vor sich hin. Die bekannte Symbiose aus Punk Rock und Metal-Versatzstücken, hier und da angereichert durch minimale Pop-Elemente, entfaltet auch 2010 wieder ihre einzigartige Wirkung. Und immer wieder stellt man beim Hören der Scheibe erstaunt fest, welch ausgefeiltes, cleveres Songwriting einem hier auf Albumlänge begegnet. Dritte Wahl sind glücklicherweise noch immer weit entfernt von stumpfen Kompositionen und ebensolchen Texten, und präsentieren dem Fan hier ein unglaubliches Spektrum an deutscher Punk Rock-Kunst!
Gleich der eröffnende Titeltrack hält massenweise Aha-Effekte bereit, denn der Text befasst sich mit den Gefahren des Alltags in unserer modernen Welt und stellt diese auf intelligente Weise dar. Das folgende "Das sieht gut aus" glänzt mit Bläsereinsätzen und tanzbaren Rhythmen, für die man sich die beiden Bands Director's Cut und Skatoons ins Studio geholt hat, die diesen beißend ironischen Titel mit peppigen Akzenten spicken. Textlich geht es um aufgeblasene Gipfeltreffen der Politik, bei denen außer viel heißer Luft nicht viel rumzukommen scheint. Das dritte Stück "Wo ist mein Preis?", übrigens das erste, das die die Punk-Veteranen für dieses Album schrieben, glänzt mit Cembalo-Einsatz und thematisiert Abzocke und falsche Gewinnversprechen in mehreren Bereichen.
Danach kommt mit "Ich bin dafür" ein Titel in gemäßigtem Punk Rock-Gewand daher, der in bester Dritte Wahl-Manier dazu aufruft, (möglicherweise radikal) gegen politische Missstände anzugehen - in Zeiten von Stuttgart 21 u.a. wird der Nerv hier bestens getroffen! Und während die zwei nachfolgenden Songs "Alles wird gut" und "Keine Angst" (letzterer stammt im Original von der polnischen Punk-Band Farben Lehre) hochqualitativen Dritte Wahl-Punk Rock inklusive geilen Gitarrensoli bereithalten, überrascht "Alles für den Wind" mit Folk Rock-Anleihen! Hier haben sich die Rostocker den Dudelsack-Spieler Dr. MaBoose von Cultus Ferox eingeladen, der dem Titel durch seine Pfeifensounds einen kleinen Mittelaltertouch verpasst - dieses Stück hätte auch auf aktuelleren In Extremo-Veröffentlichungen eine gute Figur gemacht.
Der achte Song "Fliegen" ist ein gerader, ziemlich rockiger Punk-Song, der sofort in Beine und Ohren übergeht: Den eingängigen Refrain wird man so schnell nicht wieder los, und auch die rhythmisch-akzentuierten Strophen-Arrangements sind vom Allerfeinsten. Das Stück würde somit auch in den Toten Hosen-Katalog reinpassen (keineswegs negativ gemeint!), was ganz besonders die Bridge verdeutlicht. Und da die Düsseldorfer in den letzten Jahren ja immer etwas Klamauk auf ihren Alben untergebracht haben, darf man bei Dritte Wahl jetzt auch mal damit rechnen: Mit "Mama, hol' den Hammer" hat die Band nämlich ein altes Kinderlied (bekannt geworden durch den Schlagersänger Ralf Bendix) entstaubt und im Punk-Gewand neu eingespielt, was durchaus zum Schmunzeln einlädt. Das kurze, explosive "Aufhör'n kann ich gut" kann man danach als kleine Vertonung des bekannten Spruchs 'Ich habe so lange ein Motivationsproblem, bis ich ein Zeitproblem habe' verstehen.
Mit "Ich bin's" folgt die wohl größte Überraschung von "Gib Acht!" - eine melancholisch-ruhige Piano-Ballade allererster Güte mit einem sehr ernsten Text, unglaublich schönem Gitarrensolo und gefühlvollem Gesang! Hier unterstreichen Dritte Wahl höchst eindrucksvoll, dass sie es auch in gänzlich anderem musikalischen Terrain drauf haben. Wer auf klassische Rockballaden steht, der ist hier definitiv an der richtigen Adresse und wird diesen Song so schnell nicht mehr aus den Gehörgängen verbannen können! Mit einem Song wie "Ich bin's" hätte sicher niemand gerechnet.
Die letzten drei Nummern leiten nach dieser Entspannungspause dann eingängig und laut aus dem Album aus: "Morgen schon weg" (checkt das Video auf YouTube!) und "Singles (Junge Frau zum Mitreisen gesucht)" präsentieren jeweils typische Dritte Wahl-Kost und bestechen abermals durch gewohnt saustarkes, stimmiges Songwriting, während der Rausschmeißer "Danke" mit einer kleinen Pop-Melodie gewürzt ist und in einer gerechten Welt zweifellos im Radio rauf und runter laufen würde.
Damit scheint das Album dann zu Ende zu sein - doch nach acht Minuten Stille, wo der aufmerksame Hörer aber entfernte Hintergrundgeräusche vernehmen kann ("Obacht!"), braten uns Dritte Wahl unter dem Namen "Pro Rapid" plötzlich noch eine deutlich derbere Version von "Ich bin dafür" über, die anstatt des Gitarrensolos jedoch eine Geigenvariante in petto hat!
Fazit: "Gib Acht!" zeigt auf fast 60 Minuten sehr deutlich, dass mit Dritte Wahl auch im 22. Jahr ihres Bestehens unbedingt zu rechnen ist. Hier wollte gut Ding Weile haben, was angesichts des umwerfenden Resultats auch verdammt gut so ist. Denn wenn eine Band nach fünf langen Jahren solch einen Hammer vorlegt, der die typischen Klang-Trademarks mit erfrischenden Neuerungen auf vorzügliche Art und Weise verbindet und somit zu jeder einzelnen Sekunde zu Freudensprüngen und 'Ohrgasmen' verleitet, dann wartet man doch sehr, sehr gern. Dritte Wahl sind auch im Jahr 2010 eine der führenden Formationen der deutschen Punk-Szene, die wahrlich mehr Aufmerksamkeit, gerade auch abseits der einschlägigen Kreise, verdient hat - unbedingt kaufen!
Line-up:
Gunnar (Gitarre & Gesang)
Stefan (Bass & Gesang)
Krel (Schlagzeug)

Kai Sass (Schlagzeug - #02)
Director's Cut Brass-Section (Bläser - #02)
Ultimate Skatoons Hamburg Ska Punk Brass Ensemble (Bläser - #02)
Peter Stoppok (Piano - #03, 11)
Micha (Percussion - #04, 07, 08)
Dr. MaBoose (Dudelsack - #07)
Tracklist
01:Gib Acht! (2:47)
02:Das sieht gut aus (3:35)
03:Wo ist mein Preis? (3:16)
04:Ich bin dafür (3:07)
05:Alles wird gut (3:11)
06:Keine Angst (3:11)
07:Alles für den Wind (4:25)
08:Fliegen (5:21)
09:Mama, hol' den Hammer (1:48)
10:Aufhör'n kann ich gut (1:57)
11:Ich bin's (4:25)
12:Morgen schon weg (4:01)
13:Singles (Junge Frau zum Mitreisen gesucht) (2:11)
14:Danke (4:46)
15:15:Obacht! (8:00)
16:16:Pro Rapid (2:06)
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