Georg Danzer / Der Tschik
Der Tschik Spielzeit: 29:54
Medium: LP
Label: Bellaphon, 2014 (1974)
Stil: Liedermacher



Review vom 04.11.2014


Sabine Feickert
Boah, 'ne echt heftige Mischung aus Fuselfahne und kaltem Rauch wabert mir da aus den Boxen entgegen!! Ich hör diesen ungewaschenen, unrasierten Kerl auf dem Weg zurück zu seinen Freunden ins "Männerheim" vor sich hingranteln und brabbeln und seh ihn förmlich durch mein Wohnzimmer schlurfen. Den Penner mit dieser dermaßen fertigen und versoffenen Stimme, die durch Mark und Bein geht. Seh vor mir, wie er in der "Mistkübelballade" in diesem stinkenden Eimer rumwühlt. Essbares raussammelt, die drei Paradeiser beispielsweise, die 'doch noch gut sind'. Sich wundert, was die Leute doch alles wegschmeißen. Feststellt, dass es in diesem Mistkübel aussieht wie in einem Hirn. Er wankt weiter in den Park, wo er den jungen Leuten, die dort rumgammeln »eine Moral mit auf den Lebensweg geben will«. »Lernen sollen sie was, weils schon genug Blöde gibt«. Wenn er nochmal jung wäre, ja dann... Er pöbelt bis die Polizei kommt und ihn zur Überprüfung mitnimmt. Was während dieser, im Instrumental "Erinnerungen", passiert, das lässt sich erahnen. Was da rein musikalisch passiert ist nicht von schlechten Eltern – da werden Harmonien und Melodien durcheinandergewürfelt, da läuft so vieles nebeneinanderher; dissonant und trotzdem zusammengehörig.
Es ruft die "Russland"-Erinnerungen hervor. Atemlos, überwältigt von diesen Erinnerungen, bricht es aus ihm heraus. Er erlebt dieses Grauen nochmal und zieht den Hörer mit rein. In den Krieg, den Schützengraben, aus dem heraus sie den Kameraden im Stacheldraht drei Tage »Mutter, Mutter!!« schreien hören und ihn nicht rausholen können, wegen Scharfschützen und Fliegern. Er schreit, er kotzt vor sich hin, steigert sich rein und wenn du meinst, das nimmt so gar kein Ende mehr, nähert sich die Nadel der Auslaufrille und die erste Seite des Vinyl ist fertig.... Puuuh, heftig! Kleine Pause, Platte umdrehen. Gleich weiterhören oder vielleicht erstmal einen 'Tschik'? Sacken lassen...
Denn Seite 2 fängt an mit "Mitzi". So voller Reue, Trauer und Melancholie aber auch Liebe singt er das Lied am zugewucherten Grab, dass der Kloß im Hals dick und dicker und die Augen feucht werden. Ich seh ihn gebeugt dastehen, mit seinen paar armseligen kleinen Blümchen in der Hand, seinen Gedanken und Erinnerungen nachhängend. Doch dann - "Halleluja" als Kirchenchorgesang? Die Irritation hört auf, als nach dem Kinderstimmchen von 'Purzel' Cormak der 'Tschik' wieder losröhrt. Und wen wunderts, dass der zunächst rührende Dialog dieser beiden Protagonisten, die niemanden sonst mehr auf der Welt haben, beim gemeinsamen Fußballspiel in einem zerbrochenen Sakristei-Fenster gipfelt?
Eine wahrhaftige Hexe scheint dagegen "Die alte Prohaska" zu sein, die er da verbrennen möchte – hey, die Rußwolken aus den Boxen müssen jetzt aber echt nicht sein!! "Abschied" und "Ausklang" stimmen wieder etwas versöhnlicher... und doch – beileibe kein 'schönes' Album. Dafür aber eins, das mich durch seine Intensität und Lebendigkeit echt geplättet hat. Das geht so durch und durch, Gänsehäute ohne Ende und immer wieder total lebendige Bilder vorm inneren Auge. Die ganze Geschichte, die hier erzählt wird (und noch viel mehr) läuft als Film ab. In 3D (und noch viel mehr)...
Der 'Tschik', die Zigarettenkippe, aus der wieder eine neue gedreht wird (und die den Urheber dieses Werks 2007 ins Grab brachten). Der Müll, die Parkbank, der Friedhof auf dem die "Mitzi" liegt. Und die traumatischen "Rußland"-Flashbacks. Berber, Penner haben schon oft in Songs als Thema gedient, beispielsweise bei Ambros oder Lage, doch bei "Der Tschik" hab ich das Gefühl, der singt nicht darüber, der singt davon.
Georg Danzer verkörpert diesen alten 'Sandler' (Obdachlosen) so authentisch, dass ich kaum glauben mag, dass er beim Erscheinen dieser Platte erst 26 bzw. 28 Jahre alt war (und den Krieg gerade nicht mehr miterlebt hat). Zum Erscheinungsjahr kursieren widersprüchliche Angaben, 1972 gibt seine Website an, 1974 die Plattenfirma. Einigkeit herrscht aber schon wieder darüber, dass er sie nicht unter seinem Namen veröffentlichte und erst durch eine Stimmenanalyse des österreichischen Musikredakteurs Peter Barwitz 'entlarvt' wurde. Es sollte noch ein bisschen Zeit vergehen, bis er mit der Single "Jö schau" 1975 erstmals in die Charts einzog. Und klar, vieles von dem, was ihn später bekannt machte, war sehr viel angepasster und poppiger als "Der Tschik". Wer ihn nur als Austro-Popper kennt, darf sich hier gerne mal eine ganz andere Seite anhören, wer ihn kennt, der wird sich vielleicht über die liebevolle und sehr fein remasterte Wiederauflage dieser Kultscheibe ganz besonders freuen. Brauch ich noch ein Wort drüber zu verlieren, dass das auf Vinyl sein muss?
Line-up:
Georg Danzer (Gesang, akustische Gitarre)
Hannes Neubauer (akustische Gitarre)
Rudi Napravnik (akustische Gitarre)
Klemens Figlhuber (elektronische Orgel)
Josef Baresch (Ziehharmonika)
Karl Unbekannt (elektrischer Baß)
René Reitz (Rhythmus-Geräte, Pfeifen, Gitarre)
Franz Xaver Slavik (Rhythmus-Geräte)
Georg Hauser (Schlagzeug)
Peter Wolf (Naturklavier, Fender Piano)
Peter Traxler (Synthsizer, Geigenklänge)
Peter Prohaska (akustische Gitarre)

Gast:
'Purzel' Cermak (Stimmchen auf "Halleluja")
Tracklist
Seite 1:
01:Männerheim (03:35)
02:Mistkübelballade (02:20)
03:Im Park (03:25)
04:Erinnerungen [instrumental] (03:23)
05:Rußland (03:25)

Seite 2:
06:Mitzi (03:09)
07:Halleluja (03:32)
08:Die alte Prohaska (02:59)
09:Abschied (01:33)
10:Ausklang [instrumental] (02:49)
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