Nach dem sensationellen ersten Teil dieser Bootleg-Serie folgt nun der zweite Streich! Das Rad ist um zwei Jahre weiter gedreht worden - die Musik des Trompeters hat sich abermals verändert. Hier spielen nun Musiker, die gemeinhin auch als das 'Third Great Quintet' bezeichnet wurden. Miles Davis soll sich seinerzeit geärgert haben, dass seine Plattenfirma verpasst habe, Konzerte dieser Besetzung mitzuschneiden, war doch die Band in seinen Augen »really a bad motherfucker«, wie er in seiner Autobiografie schreibt.
So waren alle Aufnahmen bisher unveröffentlicht, bis auf kursierende Bootlegs, deren schlechte Klangqualität man hier in der offiziellen Veröffentlichung nun weitgehend in den Griff bekommen hat. Doch das gelang nicht immer und vollends, die Instrumente als solche sind allerdings klar und deutlich zu verorten. Der Bass ist jedoch oft etwas hintergründig und die Trompete kommt manchmal arg verzerrt - es sei denn, das war seinerzeit bereits so beabsichtigt (was ich nicht glaube). Wie auch immer, ich bin mit dem Sound soweit zufrieden und hinsichtlich der historischen Bedeutung dieser Aufnahmen ohnehin, denn diese Besetzung hat im Studio leider nichts eingespielt. Etwas sparsam habe ich allerdings hinsichtlich des 'Booklets' geschaut, denn hier wurde eindeutig gespart. Um die Ausführungen von Josef Woodard lesen zu können, muss man sich erst die Mühe machen, ein Poster im DIN A3-Format zu entfalten. Der Text ist auf der Rückseite einer Teilabbildung der Band. Das ist für mich sehr enttäuschend - teuer ist das Set allerdings letztlich nicht.
Wer auf die Titelliste schaut, wird erfreulich wenige Überschneidungen entdecken. Die Auswahl umfasst auch einen Zeitraum mit Berücksichtigung solch alter Stücke wie "'Round Midnight" aus den Fünfzigern bis zum aktuellen Aufnahmejahr. "Miles Runs The Voodoo Down", "Bitches Brew" und "Spanish Key" sollten sogar erst später auf dem Album "Bitches Brew" erscheinen. Insofern ist es interessant, diese Vorab-Versionen mit den späteren Ausführungen zu vergleichen. Die Individualität jedes einzelnen Musikers wird stark herausgestellt - der Chef lässt ebendiesen überhaupt nicht 'raushängen'. Jeder hat seinen persönlichen Spielplatz erhalten und so ist es nicht verwunderlich, dass sich ein solcher Virtuose wie Chick Corea das nicht zweimal sagen lässt, und mit enormer Spielfreude das eine oder andere entfesselte Solo vom Stapel lässt.
Eigentlich kennt man Miles Davis so gar nicht als Musiker, der dem Free Jazz besonders nahe stand. Hier jedoch offenbaren sich einige Passagen, in denen die Musik dann doch recht frei agiert und auch der Trompeter manchmal 'die Sau raus lässt' - zum Beispiel auf "Directions" geht auch Wayne Shorter einen Tick weiter. Wild trommelt Jack DeJohnette bisweilen und rockt oft mehr, als er swingt - oder besser ausgedrückt: Er scheint den Swing durch wild eingeworfene Rockelemente unterbrechen zu wollen, dabei geht es mitunter sehr frei zu. Überhaupt offenbart er sich hier als besonderer Schlagzeuger mit einer eigenen Note, die er später noch ausbauen sollte. Ein würdiger Nachfolger für den für mich allerdings immer noch einen Tick brillanteren Tony Williams, dafür glänzt der Neue mit ein wenig mehr Vielseitigkeit.
Die Mischung aus gestern, heute und morgen funktioniert einwandfrei, und wenn ich dann den Titel "Milestones" in neuem Gewand höre, ist das schon faszinierend. Einfach klasse, dass er nicht genau so nachgespielt wird, wie er einst war, sondern wirklich weiterentwickelt und modernisiert wurde. So passen alle Titel auf diese Weise exakt in das, was sich Davis damals vermutlich von seinem Sound vorstellte.
Eine Besonderheit findet sich auf der dritten CD. Technische Störungen führten dazu, dass Corea bei einem Teil des Konzertes auf sein elektrisches Piano verzichten musste und wir somit in den Genuss des akustischen Pianos kommen. Bereits bei "Bitches Brew" hört man schnell ein Zischen und Gurgeln der Keyboards. Ob das nun bereits der technische Fehler oder Bestandteil dieses druckvoll treibenden Stückes war, das ich sehr beeindruckend finde? Es verhält sich aber zur später im Studio eingespielten Version etwas zurückhaltender.
Bei diesen Aufnahmen aus Stockholm empfinde ich, dass sie klanglich zwar etwas besser sind, aber dafür hier der Bass etwas dünn ist und das Schlagzeug stark im Vordergrund steht, dafür die Trompete nicht so übersteuert ist. Das E-Piano war offensichtlich bereits hier defekt, denn nach einer langen Ruhepause taucht Corea bei diesem Titel am akustischen Piano auf. Bei "Nefertiti" kommt das der mehr jazznahen Ausrichtung und dem Ausdruck des Stückes zupass. Hier meine ich, schon ein wenig davon zu hören, was Corea später mit der Formation Circle vorstellen sollte, nur dass Shorter etwas sanfter spielt als Anthony Braxton. Ein sonst selten gespielter Titel findet sich mit "This", einer Komposition von Corea, mittlerweile wieder zum E-Piano zurückgekehrt. Die oben erwähnte Hinwendung zum freien Spiel wird hier sicher am Stärksten repräsentiert.
Auch bei dieser Box gibt es als Beigabe eine DVD. Wir kommen in den Genuss eines Konzerts vom 7. November 1969, aufgenommen bei den Berliner Jazztagen. John O'Brien-Docker, als Gründer der deutschen Folk Rock-Gruppe City Preachers eher 'artfremd', gibt eine Einführung. Mit sehr gutem Klang und einem der Zeit entsprechenden recht guten Bild ist mit der Kamera ruhig und handwerklich einwandfrei diese Sternstunde dokumentiert worden. Auch hier hört und sieht man diese gewisse Zwitterstellung dieser Formation. Es swingt einerseits noch gewaltig, andererseits sind die Tore der Fusion bereits weit aufgestoßen. Bedingt dadurch, dass man zuschauen kann und hinsichtlich des besseren Klanges, ist die DVD insofern sicher der wertvollste Teil dieser Dokumentation.
Line-up:
Miles Davis (trumpet)
Wayne Shorter (tenor and soprano saxophones)
Chick Corea (electric piano, piano)
Dave Holland (bass)
Jack DeJohnette (drums)
Tracklist |
CD 1:
01:Introduction by Andre Francis (0:27)
02:Directions (6:06)
03:Miles Runs The Voodoo Down (9:10)
04:Milestones (13:52)
05:Footprints (11:37)
06:'Round Midnight (8:58)
07:It's About That Time (9:23)
08:Sanctuary (4:15)
09:The Theme (0:53)
(aufgenommen am 25. Juli 1969, Festival Mondial du Jazz d'Antibes, La Pinède, Juan-les-Pins, France)
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CD 2:
01:Introduction by André Francis (0:26)
02:Directions (6:17)
03:Spanish Key (10:36)
04:I Fall In Love Too Easily (2:54)
05:Masqualero (8:28)
06:Miles Runs The Voodoo Down (8:46)
07:No Blues (13:34)
08:Nefertiti (8:50)
09:Sanctuary (3:32)
10:The Theme (0:48)
(aufgenommen am 26. Juli 1969, Festival Mondial du Jazz d'Antibes, La Pinède, Juan-les-Pins, France) |
CD 3:
01:Introduction by George Wein (0:31)
02:Bitches Brew (14:38)
03:Paraphernalia (9:19)
04:Nefertiti (10:02)
05:Masqualero (incomplete) (7:58)
06:This (6:18)
(aufgenommen am 5. November 1969, Folkets Hus, Stockholm)
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DVD:
01:Introduction by John O'Brien-Docker (2:07)
02:Directions (6:42)
03:Bitches Brew (13:39)
04:It's About That Time (14:09)
05:I Fall In Love Too Easily (3:39)
06:Sanctuary (3:55)
07:The Theme (1:11)
(aufgenommen am 7. November 1969, Berliner Jazztage in der Berliner Philharmonie)
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Externe Links:
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