Über ein ganzes langes Wochenende »italienischer Momente« durften sich rund 87.000 Besucher des 23. TFF in Rudolstadt freuen. Sofern man das dauerhaft hochsommerliche Wetter (ohne einen einzigen Tropfen Regen - wann gab's das zum letzten Mal bei diesem Festival?), die fröhliche Flanierstimmung, den Eisumsatz und die "Feste sui prati" auf den zahlreichen Grünflächen zwischen Heinepark und Schloss Heidecksburg dem Themenland der blühenden Zitronen, schmachtenden Canzoni und Bunga Bunga-Politiker zuschrieb. Denn ansonsten ging's wie immer weltläufig zu, Musik, Künstler, Gäste und Geisteshaltung betreffend.
Von Donnerstagabend mit dem weit in die frühen Morgenstunden des Freitags reichenden fulminanten ersten Höhepunkt mit der Post-Hippie-Band Edward Sharpe & The Magnetic Zeros aus L.A. bis zum nicht minder nachhallenden Abschluss mit der neuseeländischen "Hi-Tek-Soul"-Truppe Fat Eddy's Drop. Dazwischen eine ganze Menge, was das Herz der Folkies, World Music-Fans, Ethno-Enthusiasten, Liedermacher-Freunde, Tanz-Jünger oder ganz einfach des 'Dolce far niente' in einer immer attraktiver werdenden thüringischen Kleinstadt erfreute. Rudolstadt, frühere Residenz der Schwarzburger Fürsten, der Stätte der ersten Begegnung zwischen Goethe und Schiller, Standort zweier bislang wenig bekannten Brauereien und ansonsten im Schatten der großen Kulturstädte des Landes, wuchs in diesen vier Tagen einmal mehr über sich hinaus. So viele Gäste wie in diesen Tagen sieht die Saale-Schönheit sonst das ganze Jahr zusammen nicht.
Beeindruckend, was die von Pressesprecher und Medienbüroleiter Wolfram Böhme verbreitete Statistik über »Deutschlands größtes Roots-Folk-World Music-Festival«
sonst so alles hergibt; etwa den Verbrauch von 12.000 Rollen Klopapier, 650.000 Blatt Papierhandtuch oder 4,4 km Bauzaun. Oder 135 akkreditierte Medien mit über 380 Mitarbeitern. Die stürzten sich auf über 1.000 künstlerisch Mitwirkende auf rund 20 Bühnen und sicher einem Dutzend Plätzen mit Straßenmusik (Spontan-Gigs im Gassengewinkel, auf dem Zelt- und Campingplatz oder im Grünen nicht mitgerechnet). Dazu zählten auch wir beiden TFF-erfahrenen RockTimer, die erstmals alle vier Tage durchhielten. Wir orientierten uns herkömmlich mit gedrucktem Programm und Live-Eindrücken, auf die erstmals angebotenen 'Apps' und Internet-Livestreams für die elektronischen Parallelwelten im Taschenformat verzichteten wir dankend. Aber nicht nur hier wurde deutlich, dass auch beim etablierten TFF die Zeit nicht stehenbleibt. Im positiven Sinn mit einer über weite Strecken perfekten Organisation, die kaum einmal den früher notwendigen Improvisationsgeist bemühen muss. Und gleich an dieser Stelle: Ein dickes Lob auch an die Bühnen- und Soundleute, so sauber und mit angemessener Lautstärke hat man die Musik von den diversen Bühnen selten (oder überhaupt nicht) gehört.
TFF im Wandel: Auch das Publikum. Kaum mehr die Scharen schlabberkleidriger Folkies auf der Suche nach den einmaligen Musikerlebnissen, auf die hingefiebert und von denen noch lang gezehrt wurde. Im ewigen Kreislauf mit Sack und Pack herumziehend zwischen Schloss, Innenstadt und Heinepark von einem auserkorenen Gig zum nächsten. Dafür legerer Freizeitlook, gediegener Mittelstand im Schlenderschritt durch die budengesäumte Altstadt, sich spontan von den Straßenmusikern für mehr oder weniger langes Zuhören zwischen Mutzbraten und Cappuccino begeistern zu lassen. Unzählige Wochenendtouristen aus ganz Deutschland und Umgebung, die mit ihren Autos die Straßen bis hinaus in die Vorstädte zuparken. Dazu reichlich Tagesausflügler aus der Umgebung, die ebenfalls TFF-Feeling schnuppern möchten. Gut für die veranstaltende Stadt, die inzwischen auch bei den Parkgebühren kräftig zulangt. Und für die Geschäfte, Buden, Lokale, Fuhrunternehmer. Die 'Laufkundschaft' schaut nicht aufs Geld und will sich unterhalten lassen.
Natürlich gibt es auch noch die 'echten' Musikfreaks, die am Theater oder an der Kirche anstehen, frühzeitig auf ihren Plätzen an den Bühnen sind oder zwischen den Bäumen im Park ohne Gedränge den Klängen der kompletten Konzerte lauschen. Die Burg Waldeck-Generation ist noch da, lang wohl aber nicht mehr. Eine junge folgt, erfreulicherweise und unübersehbar. Gepierced und tattooed, mit kopfsteintauglichen Buggies und gehörgeschützten Kids. Aber dem gleichen Spaß an anspruchsvoller Live-Mucke. Dass sie Musik anders wahrnimmt, wundert nicht. Das Schöne ist: Jeder darf, wie er will und findet bei diesem breitgefächerten Festival auch 'seine' Gigs. Von Mainstream keine Spur, Altmeister neben Insider-Spezialisten, Newcomer neben 'Auf-die-haben-wir-schon-lange-gewartet'. Und wie jedes Jahr, selbst für den engagierten Musikfreund ein randvolles Programmheft mit Künstlern, die nicht einmal dem Namen nach bekannt sind und sich hinterher im CD-Regal wiederfinden. Ein 'Tourplan' der nicht eingehalten und Veranstaltungsorte, die immer noch nicht besucht wurden. Und die Hoffnung, dass das TFF bei allen Veränderungen seinen Charakter doch so behält, wie er ist.
Wir sahen und hörten (u.a.):
Edward Sharpe and the Magnetic Zeros - Die Enkelgeneration der kalifornischen Hippies groovte über dem bereits sehr gut besuchten Heinepark. Mit ihrem charismatischen Leader Alexander Ebert, aka Edward Sharpe, Frontfrau Jade Castrinos und neun weiteren gut gelaunten Vögeln gingen die Magnetic Zeros auf Zeitreise zu den Sounds der 60er/70er Jahre. Erstaunlicherweise hat die Band bereits viele Fans, die jeden Song lautstark begrüßten. Gänsehaut kam bei dem bekanntesten Titel "Home" auf, welcher in kollektiver Freudenstimmung zusammen mit dem Publikum gesungen wurde. Wenig kontaktscheu unternahm Mr. Sharpe immer wieder Ausflüge in den Bühnengraben, unterhielt sich mit den Fans, oder filmte mit kurzfristig ausgeliehenen Kameras die Band. Mit dem Publikumswunsch "Ring Of Fire" endete der fulminante Auftakt des 23. TFF.
(Die Band befindet sich derzeit auf strammer Europa-Runde im Tourbus. Das neue Album ist für den 29. Juli angekündigt. Wer Fan ihrer Gute-Laune-Musik ist, sollte sich auch den Film "Big Easy Express" eine Reise mit Edward Sharpe and the Magnetic Zeros, Mumford & Sons and Old Crow Medicine Show von San Francisco nach New Orleans nicht entgehen lassen.)
Mokoomba - Mitreißender Afrika-Karibik-Beat und Funk mit hohem Mitzappel-Appeal am Freitag. Der Heinepark hüpfte in der Abendsonne zu schnellen Rhythmen und ansteckender Bühnen-Performance. Den Jungs aus Simbabwe wurden die CDs nach dem Gig nur so aus den Händen gerissen.
Sam Lee & Friends - sehr eigenwillige Interpretationen alten englischen Liedguts, im Gesang eher verhalten, sehr traditionell, mit teils exotischer Begleitung. Hätte er nicht so viel dazu erzählt, wäre das Publikum schneller dabei gewesen. Charismatischer Typ mit guter Balladenstimme, interessante Arrangements - den sollte sich der Folkfreund/die Folkfreundin ins Album schreiben!
David Lindley - ehrfurchtsvoll angekündigt auf der Stage als einer der ersten 'World-Musiker'. Der 69-Jährige Saitenvirtuose aus Kalifornien zog die Zuhörer am Sonntag mit vorwiegend ruhigen Klängen auf seinen vier Akustik-Instrumenten (zwei Lap Steel Guitars, Mandoline und Oud) in seinen Bann. Genauso begeisternd seine nach wie vor feste hohe Stimme. Mit einem (rhythmischen) Begleiter hätte der Mann mit dem Hobbit-Backenbart wohl anders losgelegt. Aber auch so - thank you, Mr. Dave & come back soon!
Felix Meyer (mit Band) - die Truppe spielte sich durch das ganze Wochenende, von sämtlichen Straßenecken über die große Bühne am Markt bis zur Konzertbühne. Anmachender, bilderreicher Deutschrock mit Ambiente und einem starken Sänger. Absolute Lieblinge des 23. TFF, zu Recht gefeiert. Hier kommt was, vormerken!
Trio Rouge - was für Stimmen hat Italien, was für Frauen! Lucilla Galeazzi gehört zu den wirklich Großen des italienischen Canzone und gab mit ihren beiden Pariser Mitmusikern Michael Godard (Tuba, E-Bass, Serpent) und Vincent Courtois (Cello) zwei fulminante Konzerte auf dem Neumarkt und im Theater. Politische und traditionelle Lieder in zeitgenössischer Interpretation von drei meisterlichen Könnern, die auch noch Humor haben. Bravissimo!
Árstíðir - der zarte Folkrock aus Island auf akustischem Instrumentarium und vorgetragen mit mitunter Simon & Garfunkel
-Chorgesang ist wohl eher was für die "Herr-der-Ringe"-Fraktion. Vielleicht unter anderen Umständen, aber nicht das, was die RockTimer in der Sommersonne hören wollten.
Klaus der Geiger - geehrt mit dem RUTH-Ehrenpreis für sein Lebenswerk 2011 - hat immer sein Publikum. Auf der Straße ebenso wie auf der Bühne mit Band. Mit wildem Strich und freiem Geist sagt er den Leuten, was stinkt in dieser Republik. Aber nicht nur hier. Von wegen altersmilde am Brunnen vor dem Tore sitzend, wie so mancher seiner erfolgreichen Liedermacher-Kollegen. Nein, auch in Rudolstadt noch mit über 70 Jahren: laut, motzend und politisch. Wie schon seit über vier Jahrzehnten.
Das magische Instrument - die Flöten. Das war eher was für die Feingeister. Wir saßen in der proppenvollen Kirche auf der schnell stickig-heißen Empore, umgeben von knarzigem Gestühl und anfangs hingebungsvoll lauschenden Fans. Die verhaltenen Töne aus den unterschiedlichsten Rohren der internationalen Bläser-Spezialisten in längeren, gemeinsam erarbeiteten Stücken waren unter diesen Umständen nur eine gewisse Zeit fesselnd. Draußen im Gras mit Lautsprecher-Übertragung und frischer Abendbrise wurde die sakrale Stimmung nicht vermisst.
Alles neu bei der RUTH - Modus, Jury und natürlich Preisträger. Über den Ehrenpreis für ihr Lebenswerk durfte sich die in Thüringen gebürtige Tanz-Pädagogin Eva Sollich freuen. Der wieder ausgelobte Nachwuchspreis wurde dem Lao Xao Trio aus Dresden verliehen. Mariana Sadovska aus der Ukraine, studierte Musikerin und Komponistin, Sängerin, Schauspielerin, Multi Media-Performerin und Theaterleiterin, heute in Köln lebend, erhielt den RUTH-Hauptpreis.
( Übrigens: Nach kurzer Abstinenz sind unsere RockTimes-Fotos in diesem Jahr wieder Teil des fotografischen Rückblicks auf der TFF-Homepage).
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