Forgotten Suns / Innergy
Innergy Spielzeit: 64:49
Medium: CD
Label: ProgRock Records, 2009
Stil: Prog Metal


Review vom 08.04.2009


Boris Theobald
Das dritte Album der Portugiesen Forgotten Suns ist da und tupft einen richtig fetten Punkt auf die Weltkarte des Progressive Metal mitten in Lissabon! Nach einigen Besatzungswechseln - aus den ersten Tagen sind nur noch Gitarrist Ricardo Falcão und Keyboarder Miguel Valadares dabei - stanzen uns die Jungs von der Atlantikküste eine Langrille aus, die das Potenzial hat, eine komplette Spezies von Metal-Fans rund um die ganze Welt zu begeistern.
Sie bringen ein technisches Können mit, das Otto-Normalinstrumentalist binnen Minuten per Rezept in die Geschlossene bringt. Diese Scheibe bietet nahezu alles, was das Herz des noch so verwöhnten Die-Hard-Proggies höher schlagen lässt. Gitarren- und Keyboardsoli zum Reinknien. Irrwitzige Parallelbewegungen von und mit und zwischen allen Saiten- und Tastenapparaten. Eine Rhythmussektion, die mit Wucht und Power und ungemein detailversessen, knifflig und verzwickt durch eine Unzahl intuitiver Zählzeitenwechsel navigiert.
Damit nicht genug: Forgotten Suns kanalisieren ihr Können in sagenhaften Songstrukturen. Sie schreiben hochkomplexe, vertrackte Longtracks. Schwindel erregende, teils rhapsodisch anmutende Achterbahnfahrten mit der Vorhersage-Genauigkeit eines Hedgefonds an der Wall Street. Von teils zirkusreifem Unterhaltungswert sind die durchgeknallten instrumentalen Darbietungen. Die 'üblichen Verdächtigen' Dream Theater lassen immer mal wieder grüßen. Und teils noch wildere Experimental-Experten wie Beyond Twilight ("For The Love Of Art And The Making") oder Mystic Force ("Man vs. Machine").
Und dennoch verliert sich kein Song in orgasmatischer Selbstbeweihräucherung - niemals zergeht der Technik-Cocktail in überdehnter narzisstischer Solo-Selbstzufriedenheit, wie man das bei den Prog Metal-Übervätern aus dem Traum-Theater beispielsweise auf "Train Of Thought" schon mal kritisieren durfte. Viel zu dynamisch dreht sich das Rad der Veränderung. Der Attraktivität der Instrumentalstrecken vom Spannungspotenzial eines SciFi-Psychothrillers kann man sich eigentlich nur noch in Vollnarkose unter der fachlichen Aufsicht eines Anästhesisten entziehen.
Auch am Mikrofon sind Forgotten Suns bestens bedient: Nio Nunes - ein kraftvoller Metal-Shouter mit inbrünstiger Leidenschaft und guter Technik; ein großer Ambitus trotz dunkler Stimmfärbung. Lediglich bei den Refrains von "Outside In" und "Nanoworld" manövriert er haarscharf an der Obergrenze, allerdings gerade noch ohne sich dabei zu übernehmen. Und ich rede von hohen, wirklich hohen Wolkenkratzer-Gesangslines! Obwohl Nio Nunes erst während der Aufnahmen zum Album neu zur Band stieß, sind ihm diese Melodien wie auf die Stimmbänder geschneidert. Hier passt, was passen muss. Denn die Band legt überaus großen Wert auf die Ordnung stiftende Funktion markanter Gesangsparts.
Bei ihren einprägsam herausstechenden Refrains sind Forgotten Suns so wählerisch wie die Katze beim Feuchtfutter [darüber kann der Katzen-haltende Redaktionsteil ganze Arien singen]. Und gar nicht mal verschwenderisch! "Racing The Hours": acht Minuten, zweimal Chorus. "Nanoworld": 12,5 Minuten, zweimal Chorus. Aber was für einer! Emotionale, ganz weit ausholende Melodien. Man könnte sie beinahe als verträumt, lyrisch bezeichnen - bei diesen Begriffen erwartet man aber eher Balladen, und keinen Schwermetall-Bombast wie im Falle dieser Refrains, die inmitten polyrhythmischer, explosiver Zaubertaten die Dynamik für ein paar Takte im Zaum halten. Das erinnert mich an "Egypt" von Symphony X: Lange wartet man auf den zweiten, hypnotisierend schönen Chorus und wird in der Zwischenzeit durch wild-bezaubernde musikalische Fiktion 'entschädigt'. Musik, die auch dann Geschichten erzählt, wenn keine Worte dazu gesungen werden.
Mit am beeindruckendsten sind ein 3:20 langes 'Intro', das sich bei "An Outer Body Experience" mit zunehmender Intensität ausbreitet und das atemberaubende Kreativ-Feuerwerk in den furiosen, kurzweiligen und doch gar nicht enden wollenden Instrumental-Expeditionen von "Outside In" und "Nanoworld". Wenn man Forgotten Suns irgend etwas vorwerfen will, dann die gelegentliche Nähe zu Dream Theater. In diesen Fällen entdecke ich punktuelle Parallelen zum Instrumentalpart von "Octavarium" - beim kaum weniger episch angelegten "An Outer Body Experience" erinnert das atmosphärische Klavier-Outro einen Augenblick lang an "Surrounded".
Doch das ist die Suche nach dem (zuvor gespaltenen) Haar in der Suppe. "Innergy" ist und bleibt Kino für die Ohren! Und eingebettet in diesen wunderbaren cineastischen Wahnsinn sind noch zwei preisverdächtige 'Kurzfilme': "Flashback" und das schon brutal eingängige, Mark und Bein durchdringende "Doppelgänger". Ein einschüchterndes, düsteres Staccato-Riff-Gewitter, punktuell 'geflutet' mit bombastischen Synthesizer-Klängen. Den ultimativen Feinschliff erhält "Innergy" durch üppig eingesetzte moderne Effekte und auch Sprach-Samples, z.B. solche von medialen Schreckensmeldungen im Song mit dem bezeichnenden Titel "News".
Auch mit den Lyrics können Forgotten Suns durchweg überzeugen. Das ist kein sinnfreier Klamauk, sondern durchdachte Lyrik, zum Beispiel recht kontemplativ über Leben, Tod und die ominöse Schwelle dazwischen (ziemlich cool: "Flashback" über eine Nahtod-Erfahrung), oder über fiktive Zukunftsszenarien wie einen ultimativen Horror-Tsunami ("News") oder eine versklavte Menschheit in einer futuristischen Roboter-Herrschaft ("Nanoworld").
Welch ein Glück, dass "Innergy" doch weit mehr ist als Dream Theater-Verehrung. Auch die beklemmende Eindringlichkeit von Fates Warning spielt mit; die dunkle Brachialgewalt von Evergrey oder Symphorce und die ekstatische Melodik von Circus Maximus - und der Mut zum Ausprobieren und Andersklingen, wie ihn moderne Prog Metal-Bands wie Andromeda an den Tag legen. Viel besser geht's nimmer. Nur noch die Verringerung letzter Referenzen an das New Yorker Traum-Theater und eine göttliche Eingebung stehen der künftigen Veröffentlichung eines ultimativen Genre-Klassikers im Weg - für "Innergy" 'nur' 9 von 10 RockTimes-Uhren.
Line-up:
Ricardo Falcão (guitar, vocals)
Miguel Valadares (keyboard)
J.C. Samora (drums)
Nuno Correia (bass)
Nio Nunes (lead vocals)
Tracklist
01:Flashback (4:13)
02:Racing The Hours (8:00)
03:News (10:02)
04:Doppelgänger (4:08)
05:An Outer Body Experience (7:04)
06:Outside In (10:04)
07:Nanoworld (12:30)
08:Mind Over Matter (8:42)
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