Freegh / Same
Freegh Spielzeit: 73:04
Medium: CD
Label: Run And Pray, 2012
Stil: Prog Rock

Review vom 28.04.2012


Boris Theobald
Was ist das Besondere, das eine Band besonders macht? Bei der französischen Band Freegh guckt es einen schon an, bevor man die CD ihres Debütalbums aus ihrer Hülle nimmt. Denn der Talisman auf dem Cover ist echt. In einer kreisrunden, transparenten Kunststoffeinbuchtung liegt dieser grünlich schimmernde Stein, der einem beim Aufklappen der Hülle in die Hand fällt, sobald man das Booklet samt stabilisierender Pappe drumrum herausnimmt. Es wirkt wertvoll, vermutlich hergestellt aus irgendeiner Form von Keramik. Die Details im Oberflächenrelief sind aufwändig herausgearbeitet - als Laie würde ich dieses Stück ohne Zweifel für ein sakrales Relikt aus einer antiken Ausgrabungsstätte halten.
Es ist mehr als ein Gimmick. Denn mit all seiner Rätselhaftigkeit beginnt dieser Stein schon, die Geschichte Freeghs zu erzählen, bevor man die Musik zum allerersten Mal hört. Die Band aus Frankreich ließ sich in ihren Texten eigenen Angaben zu Folge von den Büchern Anne Givaudans und Daniel Meurois' inspirieren. Sie greift lose dessen "Récits d'un voyageur de l'astral" auf - die mystische Suche eines Helden, dessen Schicksal es ist, Echnatons Geheimnisse vor dunklen Mächten zu beschützen... Musik und Texte Freeghs werden zu einer mythischen Reise um die Welt. Und es ist schon beeindruckend, wie diese Musik das ausdrückt...
Freeghs Progressive Rock betont nicht die technische Seite, sondern zielt voll auf das Gefühlszentrum. Die Stücke - bis auf eines alle in 'Normallänge' - sind in ihrem Aufbau sehr linear. Und in ihrer Energiekurve anschwellend und ausdrucksvoll. Die meisten beginnen ruhig, mit akustischer oder cleaner Gitarre, oder auch mit geheimnisvollen Synthie-Effekten. Früher oder später türmen sich mehr und mehr Schichten auf. Zusammen mit Pierres Gesang - gar nicht technisch, nicht überkandidelt, nicht theatralisch, einfach leidenschaftlich, kraftvoll und tiefgehend - entstehen riesengroße Atmosphären. Die Musik hat einen - gar nicht negativ gemeint - Pop-Touch. Ein zeitloser, detailverliebt-proggiger Experimental-Pop à la Saga.
Mit klaren Harmonien und überwältigender Expressivität erzeugen Freegh in beinahe jedem Song diese Momente, bei denen man alle Waffen streckt und förmlich fühlt, wie die Wände um einen herum verschwinden und im Kopf ein großes Gefühl von Freiheit entsteht. Die musikalischen Mittel dazu sind so einfach wie genial. Die traumhaften Melodien mit diesem unaufgeregten und dennoch intensiv und optimistisch nach vorn treibenden Puls; das erinnert zuweilen an Galleon - in introvertierten, wehmütigen Momenten auch an David Gilmour. Beim klagenden "I Won't Cry" an Sylvan. Und sehr oft denke ich auch an Rush zur Zeit von "Hold Your Fire" bis "Roll The Bones" - an verträumte Stücke wie "Tai Shan" oder "High Water", oder beim Freegh-Opener "All That You Deserve" (Zaubermelodie!) an das magische "Bravado".
Das ist nun ein Kompliment, das ich selten ausspreche. Und es sind nicht nur die kosmisch schönen Stimmungen, die mich dazu bringen, sondern auch die feinen Strukturen, mit denen die Band sie erzeugt. Es ist das Gespür für Dynamik und Intensität; und es ist Nicos Gitarre, die so überschwänglich melodisch spielt und zugleich auch noch die Rhythmik bestimmt - weitschweifig verzerrt und damit immens große klangliche Räume schaffend. Spannend machen Freegh es immer da, wo man mit diesen Power-Atmos lange Zeit nicht rechnet. "Inuit Girl" fängt sogar leicht unheimlich und mysteriös an, mit sanftem Keyboard-Gewaber... und wird dann lyrisch, mit der wunderschönen Gaststimme einer gewissen Didi, ehe sich das Stück mit großer optimistischer Power öffnet.
Ebensolche Passagen können auch ziemlich rockig ausfallen, wie bei "Dandelion Mandala" (beinahe eine Art U2) - aber die Keyboards liefern meistens ein weiches Gegengewicht, besonders intensiv und warm im Quasi-Titelstück "The Legend Of Freegh". Überhaupt schaffen die Synthesizer es, den Stimmungen ihren leichten Schubs in die richtige Richtung zu geben. So bekommt "Runaway" etwas Düsteres, Mechanisches (ein Hauch von 80er-Jahre-Genesis). Und der genial nach vorn eilende, rockige Drive von "Not As Fast As A Dog Team" wird mit einem akustischen 'Glitzern' passend zum Inhalt (Schlittenhunde sind jeder Maschine überlegen!) in eine verzauberte Eislandschaft verfrachtet... in Kombination mit Marimba-Klängen? Wow, klingt das faszinierend! Wer nicht wagt...
Nicht zuletzt mit Hilfe kleiner Details - nicht immer nur welche der vorhersehbaren Sorte - wandert die Musik von Freegh durch die halbe Welt. Zu meinen Lieblingsmomenten zählen ganz sicher die des zweigeteilten Stücks "Akasha" - hypnotisch schöne orientalische Klänge, wieder mit Gastsängerin Didi in einer mir unbekannten Sprache. Und überall werden Mythen aufgegriffen: ägyptische, tibetische, indische, nordische, christliche... Sie werden auch in einzelnen Stücken miteinander vermischt. So bringt eine esoterische Suche nach den all übergreifenden, universalen Wahrheiten viele kleine Antworten auf große Fragen. Einige der musikalischen Antworten ähneln zwar einander - die 73 Minuten Spielzeit sind etwas zu viel. Aber die kompletten 73 Minuten sind einfach gut. Und Freegh etwas Besonderes, mit oder ohne Talisman.
Line-up:
Niko (drums)
Pierre (bass guitar)
Nico (electric guitars)
Pierre (lead vocals, keyboards, acoustic guitar, Tenori-on)

Guest musicians:
Pierre Cordier (bass guitar - #1)
Didi (additional vocals - #5,7,12,14)
Mark Haliday (additional organ)
Tracklist
01:All That You Deserve (4:50)
02:Dandelion Mandala (4:58)
03:The Runaway (3:52)
04:The Legend Of Freegh (4:56)
05:Akasha (Part I) [5:23]
06:I Won't Cry (4:01)
07:Inuit Girl (5:20)
08:You Won (4:51)
09:Dead And Alive (5:35)
10:Old Times Belong To The Living (3:45)
11:The Pyramid Of Ice (4:32)
12:Woman And Mother (6:13)
13:Not As Fast As A Dog Team (3:03)
14:Akasha (Part II) [11:43]
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