Guns N' Roses / Chinese Democracy
Chinese Democracy Spielzeit: 71:26
Medium: CD
Label: Geffen Records, 2008
Stil: Hard Rock

Review vom 25.11.2008


Moritz Alves
Unfassbar, dass die Rockwelt diesen Tag wirklich erleben darf! Das scheinbar Unmögliche ist möglich geworden, denn "Chinese Democracy" ist tatsächlich erschienen! Was ist über dieses Album - nein, diesen Mythos - in all den Jahren nicht alles spekuliert worden, und was konnte man im Vorfeld nicht schon an Songmaterial im Internet finden... Dem Rezensenten waren ganze 12 der 14 auf dem Album enthaltenen Songs zum Teil schon Jahre vor dem jetzigen Release bekannt. Natürlich handelte es sich dabei um unfertige Demoversionen - dennoch haben diese 'Leaks' unweigerlich dazu geführt, dass "Chinese Democracy" letztendlich weit davon entfernt ist, eine echte Überraschung zu sein. Umhauen tut es mich aber irgendwie trotzdem noch, denn die Tatsache, dass diese Phantom-Platte nun wahrhaftig zu erwerben ist, grenzt schon an ein kleines Wunder. Das am längsten angekündigte, am heißesten diskutierte und am sehnsüchtigsten erwartete Album der Rockgeschichte halte ich nun in meinen Händen. Und es tut verdammt gut, einen hochprofilierten Songwriter wie Axl Rose (der mittlerweile übrigens auf das Kürzel 'W.' vor seinem Namen verzichtet) zurück zu wissen.
Als ich den Titeltrack und erste Single am 22. Oktober erstmalig im deutschen Radio hören konnte, war das alte Feuer sofort wieder entfacht (vor zehn Jahren waren Guns N' Roses meine absolute Lieblingsband). Da war plötzlich scheißegal, dass außer Axl Rose und dem Keyboarder Dizzy Reed von der alten "Use Your Illusion"-Besetzung niemand mehr übrig geblieben ist. Was zählte, war, dass die Zeichen nun wirklich auf Sturm standen - ohne jegliches wenn und aber und ohne im letzten Moment doch noch zurückzurudern.
Trotz aller Freude und Erleichterung sollte aber jedem von vorn herein klar sein, dass man sich dieser Scheibe nicht vorbehalt- und kritiklos widmen darf und kann. Es hätte nämlich definitiv schneller gehen können mit "Chinese Democracy"! Denn gemessen an den unfertigen, im Vorfeld im Netz kursierenden Versionen hätte dieses Album zweifellos viel eher erscheinen müssen. Einschneidende Veränderungen wurden an den Tracks nämlich nicht vorgenommen, sondern nur minimale Ergänzungen bzw. Ausbesserungen getätigt. Keiner der 14 Songs von "Chinese Democracy" ist letztendlich so gut, dass man ihm eine Entstehungszeit von fast anderthalb Dekaden locker abnehmen wird. Daher gilt das Argument, dass gut Ding Weile haben will, heuer bei Guns N' Roses eher weniger.
Dass der exzentrische Frontmann Axl Rose sich von niemandem in seine künstlerische Freiheit reinreden lässt, ist hinlänglich bekannt, ändert aber nichts daran, dass seine Zeit eigentlich vorbei ist. Seien wir doch mal ehrlich: Wäre dieses Album Ende der 1990er Jahre erschienen, hätte es noch mal so richtig einschlagen können (der erste von insgesamt über 20 (!) möglichen Veröffentlichungsterminen lag schließlich Anfang 1999). Mittlerweile denke ich aber, dass nach einem anfänglichen Hype um dieses Comeback schnell zur Normalität zurückgekehrt werden wird. "Chinese Democracy" wird vom Klassikerstatus der Meisterwerke "Appetite For Destruction" (1987) und den beiden "Use Your Illusion"-Scheiben (1991) auf lange Sicht weit entfernt bleiben.
Dieses Album wird nur deshalb so hoch gehandelt und heiß diskutiert, weil es unter dem Banner 'Guns N' Roses' erscheint. Denn es war ein äußerst cleverer Schachzug von Axl Rose, seinen einstigen Mitstreitern Slash (verließ die Band 1996) und Duff McKagan (folgte ihm zwei Jahre später) in den 1990er Jahren die Namensrechte abzuschwatzen... So kann er nun ganz legitim seine musikalische Vision umsetzen und es den Leuten trotzdem als Guns N' Roses verkaufen. Denn 'Otto-Normalmusikhörer' kümmert es letztendlich herzlich wenig, wer hinter diesem Bandnamen steckt. So lange Roses unverkennbare Stimme in die Gehörgänge eindringt, wird es vielen egal sein, was sonst alles mit der Band passiert ist.
Was man aber auch immer von diesem Album halten mag, Fakt ist, dass es mit Slash und Duff McKagan so sicher nicht zustande gekommen wäre. Diese technische Perfektionswut, dieser sterile, (pseudo-) moderne, opulente, stellenweise fast überladene Klangkosmos hat weder viel mit klassischem, bluesdurchzogenem Hard Rock (Slash) noch mit amerikanischem Punk Rock-Rotz (Duff) gemein. Nein, hier erkennt man durch und durch die Handschrift von Axl Rose, der den "Illusion"-Sound quasi logisch weiterführt und sich dabei einen Dreck um Erwartungshaltungen bzw. Hard Rock-Konventionen schert. Dieses Album hat mit "Appetite For Destruction" überhaupt nichts mehr zu tun, das muss jedem Fan klar sein! Und es ist mitnichten so was wie 'Use Your Illusion III', sondern eben einfach "Chinese Democracy" - Axl Roses Lebens- und Meisterwerk. Eine Totalabkehr vom sleazy L.A.-Hinterhof-Rock der Anfangstage und eine überperfektionistische, überproduzierte Weiterentwicklung vom Arena-Rock der frühen 1990er, als Guns N' Roses nicht nur die 'most dangerous band in the world', sondern auch die letzte große Hard Rock-Supergruppe waren. Mit dem Zerfall der 'alten' Guns N' Roses ging damals schließlich die Ära des Stadionrock zu Ende, eine Band von vergleichbarer Größe ist seitdem nicht mehr auf der Bildfläche erschienen.
Soviel also zum Vorgeplänkel und zur Kritik. Jetzt wird es Zeit, sich etwas genauer mit "Chinese Democracy" auseinander zu setzen. Dieses Album ist nämlich in jeder Hinsicht ein Werk der Superlative: Aufgenommen in 14 Studios vom Produzenten-Team Caram Costanzo / Axl Rose sowie teilweise auch von Roy Thomas Baker bzw. Sean Beavan, denen sage und schreibe 25 Assistant Engineers zur Seite standen; darüber hinaus kommen (im Schnitt) zehneinhalb Musiker pro Song zum Einsatz (insgesamt sechs Gitarristen griffen auf "Chinese Democracy" in die Saiten - inklusive Mr. Rose himself) - solche Dimensionen muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen...! Das alles und noch viel mehr ist in den Song- und Album-Credits kleinlichst aufgelistet und macht die vielen Besetzungswechsel über die Jahre sehr deutlich. Diese peniblen Credits stellen das gesamte Ausmaß und den Größenwahn von "Chinese Democracy" sehr anschaulich dar, dessen Produktionskosten sich schätzungsweise auf mehr als 13 Millionen US-Dollar belaufen.
Und die eigentliche Entstehungszeit? Darüber schweigen sich die Credits lieber aus... Geht man aber mal von den häufig genannten 14 Jahren aus, bekommt man nun im Endresultat quasi pro Produktionsjahr einen Song geliefert, was schon ein starkes Stück ist! Und es kommt noch besser: Ganze 17 Jahre sind seit den letzten Alben mit originalen Guns N' Roses-Songs vergangen ("Use Your Illusion I & II" erschienen simultan 1991), 15 Jahre ist die letzte reguläre Studioscheibe her (das Cover-Album "The Spaghetti Incident?" wurde 1993 veröffentlicht) und 14 Jahre sind seit der finalen Amtshandlung der alten Besetzung ins Land gezogen (für den Soundtrack zu "Interview With The Vampire: The Vampire Chronicles" steuerte man 1994 das Rolling Stones-Cover "Sympathy For The Devil" bei). In den 14 Jahren zwischen 1994 und 2008 gab es mit dem Live-Doppelalbum "Live Era: '87-'93" (1999), dem Song "Oh My God" (Soundtrack-Beitrag zum Schwarzenegger-Film "End Of Days" und gleichzeitig erstes Lebenszeichen der 'neuen' Band, ebenfalls 1999), sowie der "Greatest Hits"-Compilation (2004) schließlich nur drei Hinhalte-Veröffentlichungen, um den Namen Guns N' Roses im Gespräch zu halten.
Angesichts solcher Tatsachen gerät das eigentliche Songmaterial schnell in Vergessenheit. Dabei ist "Chinese Democracy" mit einer Spielzeit von fast 72 Minuten ziemlich prall gefüllt. (Alles andere wäre nach einer so langen Wartezeit allerdings auch eine Frechheit gewesen...) Wie weiter oben bereits angedeutet, lässt sich die stilistische Ausrichtung grob als Weiterentwicklung des "Use Your Illusion"-Konzeptes beschreiben. Denn was Axl Rose schon damals durch elektronische Spielereien und opulente, dichte Arrangements hatte anklingen lassen, findet im Jahre 2008 seine Vollendung. Dennoch ist auch von "Use Your Illusion" nicht allzu viel übrig geblieben, sondern es erinnern nur einzelne Songs bzw. Passagen an den 1991er Doppelschlag. Ansonsten regiert ein moderner Soundmix aus Industrial-Gitarren, Keyboard-Teppichen, teils RnB-angehauchtem Schlagzeug, teils High-Tech-Gitarren-Soli und etwas Plastik-Orchester aus der Dose... Der organische Sound der alten Besetzung gehört also ziemlich der Vergangenheit an.
Die deutlichsten "Illusion"-Zitate finden sich bei "Street Of Dreams" (eine wunderschöne Pianoballade, die jahrelang unter dem Titel "The Blues" im Netz kursierte), "There Was A Time", "I.R.S." (beides Stücke mit leichten "Breakdown"-Parallelen) und "This I Love" (abermals eine hochemotionale, balladeske Pianonummer mit großartigem Gitarrensolo). Darüber hinaus gibt es den ziemlich rockigen, stampfenden Titeltrack, die beiden Industrial-Brocken "Shackler's Revenge" (das mit einem Refrain zum Niederknien aufwartet) und "Scraped", den modernen Hard Rock-Kracher "Riad N' The Bedouins" (mit ausgiebigem, typischen Axl Rose-Sirenengesang), den druckvoll treibenden Rocker "Better" und das melancholische, schleppende "Sorry" (mit Sebastian Bach als Background-Sänger). Besonders im Ohr hängen bleiben das hochmelodiöse "Catcher In The Rye" (auf dem ursprünglich eigentlich Brian May zu hören sein sollte), das Keyboard-lastige, orchestrale "Madagascar" (inklusive ausladendem Sample-Teil in der Mitte, in dem neben diversen Film-Dialogen (unter anderem das schon aus "Civil War" bekannte "Cool Hand Luke"-Zitat) auch Martin Luther King, Jr. berücksichtigt wird) sowie die letzte Nummer "Prostitute", die schön emotional zwischen laut und leise pendelt, bevor sie den Hörer ganz sanft aus dem Album entlässt. Richtig aus dem Rahmen fällt letztendlich nur "If The World", eine mit mittelöstlichen Melodien gespickte Soul-Funk-Pop-Nummer, die so manchem schwer im Magen liegen dürfte - Axl Rose goes RnB, oder was?! Definitiv der mutigste, aber in meinen Augen auch überflüssigste Song des Albums.
Betrachtet man die Texte von "Chinese Democracy", so fallen zwei Aspekte auf: Zum einen der unglaubliche Herzschmerz, der den Sänger über die Jahre immer wieder heimgesucht haben muss. So singt er in "Better":»The hardest part/ This troubled heart/ Has ever yet been through now/ Was heal the scars/ That got their start/ Inside someone like you now«. In "Street Of Dreams" tönt es verzweifelt: »So now I wander through my days/ And try to find my ways/ To the feelings that I felt/ I saved for you and no one else«. Und in "This I Love" verleiht er seinen Gefühlen folgendermaßen Ausdruck: »I hoped she'd never leave me/ Please God you must believe me/ I've searched the universe/ And found myself/ Within her eyes«.
Der andere Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch das Album zieht, ist Axl Roses Wille, "Chinese Democracy" unbedingt zum für ihn absolut richtigen Zeitpunkt zu veröffentlichen, sich von niemandem dabei reinreden und sich niemals von seinem Weg abbringen zu lassen: Textstellen wie »Sands of time and desert winds/ Nomads and barbarians/ I won't bend my will to them/ You aggravate me« (aus "Riad N' The Bedouins"), »You don't know why/ I won't give in/ To hell with the pressure/ I'm not cavin' in« (aus "Sorry") oder »I bet you think I'm doin' this all for my health« (aus "I.R.S.") zeigen mehr als deutlich, was Axl Rose von seinen zahlreichen Kritikern hält und mit welchem Selbstbewusstsein er ihnen entgegen tritt.
Fazit: Wer dieses Album unbedingt mit den 'alten' Guns N' Roses vergleichen will, der kann nur verlieren. Man muss "Chinese Democracy" als das begreifen, was es ist, nämlich Axl Roses musikalischer Höhepunkt, und sollte dabei als alter Fan den Bandnamen besser ausblenden bzw. aufhören, dem Spirit der alten Tage hinterher zu trauern. Denn ist es nicht eigentlich sehr beruhigend, diese charakteristische Stimme zurückzuwissen? Die Welt wäre ohne die schillernde Persönlichkeit eines Axl Rose zweifellos um einiges ärmer. Jeder, der irgendwie auf vielschichtige, facettenreiche Rockmusik steht, dem hochwertiges Songwriting am Herzen liegt, der sollte dieser Scheibe eine faire Chance geben, dabei aber keinen organischen Hard Rock der Herren Slash, Duff McKagan und Izzy Stradlin mehr erwarten. Denn das diese Ära endgültig vorbei ist, beweist Axl Rose hier fast 72 Minuten lang.
'"Chinese Democracy" starts now!', zumindest in der Rockmusik. Dass im Fernen Osten noch lange keine echte Demokratie herrscht, daran ändert auch Axl Rose nichts. Und ob dieses Album in China erhältlich sein wird, steht zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls in den Sternen...
Anspieltipps: "Better", "Street Of Dreams", "There Was A Time", "Catcher In The Rye", "Madagascar", "This I Love", "Prostitute".
Anmerkung: Beim unten aufgeführten Line-up handelt es sich um die derzeit aktuelle Band-Besetzung. In der Vergangenheit standen u.a. auch Musiker wie Buckethead, Robin Finck oder Bryan 'Brain' Mantia im Dienst von Axl Rose.
Line-up:
Axl Rose (vocals, piano, keyboards, guitars, synth orchestra, synth french horns, background vocals)
Tommy Stinson (bass, background vocals)
Dizzy Reed (keyboards, piano, synth orchestra, background vocals)
Ron "Bumblefoot" Thal (guitars)
Chris Pitman (keyboards, sub bass, synth orchestra, 12 string guitar, bass, drum programming, string machine, mellotron, background vocals)
Richard Fortus (guitars)
Frank Ferrer (drums)
Tracklist
01:Chinese Democracy (4:43)
02:Shackler's Revenge (3:37)
03:Better (4:58)
04:Street Of Dreams (4:47)
05:If The World (4:55)
06:There Was A Time (6:41)
07:Catcher In The Rye (5:53)
08:Scraped (3:30)
09:Riad N' The Bedouins (4:11)
10:Sorry (6:14)
11:I.R.S. (4:29)
12:Madagascar (5:38)
13:This I Love (5:34)
14:Prostitute (6:16)
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