Diese Platte kann man in Europa getrost in der Ablage 'So gut wie unbekannt' unterbringen. Ich lernte sie nach ihrem Erscheinen 1970 nur deswegen kennen, weil sich in meiner Nähe eine Kaserne der Amerikaner befand.
Die jungen G.I.'s, manche nur zwei oder drei Jahre älter (!) als ich 15-Jähriger, befanden sich alle auf der Drehscheibe in Richtung einer Hölle namens Vietnamkrieg, machten mich aber auf ihren Partys mit viel Musik bekannt, die in Europa nicht so geläufig war. (Nebenbei lernte ich auch manch andere Dinge kennen, die zu jener Zeit ein kleiner Freak kennen musste und die The Who ein Jahr zuvor in "We're Not Gonna Take It" auf der Rock-Oper Tommy als »Smoking Mother Nature« bezeichneten). Schwamm drüber, those were the days ...
Ein Vermächtnis erhielt ich von einem dieser unglücklichen Gestalten kurz vor seinem Kriegseinsatz, im Cover steht noch die Widmung: »To Manfred - I wish both of us the best of luck. Dave.«. Keine Ahnung, wie es ihm weiter erging, aber sein Geschenk in Form einer abgenudelten und ziemlich zerkratzten Doppel-LP, die mir so gut gefallen hatte und von der ich wusste, dass es sie hierzulande nicht zu kaufen gab, die hab ich immer noch. Solche Dinge nennt man wohl 'Sentimental Value' und sind somit unersetzbar.
Seit Anfang der Sechziger gab es in Minnesota eine Band namens Underbeat, die nach zwei Personalwechseln 1968 nach L.A. umsiedelte und sich nach etwa einem Jahr im damals schon berühmten Club 'Whiskey A Go-Go' auf dem Sunset Strip als Hausband etablieren konnte, nachdem Chicago Transit Authority (die ab 1970 als Chicago Superstardom erreichten) diesen Posten nach dem sensationellen Erfolg ihrer Debütplatte verließ. In diesem angesagten Club gaben sich die A&R Manager der Plattenfirmen förmlich die Klinke in die Hand. Während dieses Engagements änderten die Underbeat auch ihren Namen in das besser klingende Gypsy - Beat war ja out...
U. a. war ABC Dunhill als großes Label interessiert, aber die jungen Musiker lehnten es ab, in ihrem eigenen Stil "He Ain't Heavy, He's My Brother" von den Hollies einzuspielen. Das Label zog sich daraufhin zurück, am Ende waren nur noch Atlantic und Metromedia stark an der Band interessiert. Metromedia machte das Rennen durch Zugeständnisse, die darin gipfelten, all diese Kreativität von Gypsy auch auf einer Doppel-LP als Debüt zu akzeptieren!
Eine Doppel-LP als Debüt im Jahr 1970? Sowas gab es erst ein Jahr zuvor das erste Mal in der noch jungen Geschichte des Rock und wie der Zufall es will, von Chicago Transit Authority, die sie im 'Whiskey A Go-Go' ja ablösten und die ebenfalls aus dem Mittelwesten stammen.
Stilistisch ist die Musik dieser ersten Gypsy-Platte schwer in Worte zu fassen. Sie ist mal eher progessiver Pop, dann wieder astreiner Rock und in den langen Titeln beides gleichzeitig. "Gypsy Queen" mit seinen beiden Parts wurde als Single veröffentlicht und hatte in den USA einen beachtenswerten Erfolg. Eine irre Zeit: Ein junger Typ, der während der Sessions dort rumhing, Besorgungen erledigte und hie und da mal aushalf, war der dann nicht lange danach zu Weltruhm aufgestiegene Billy Joel.
Kein Zweifel, einige der eher kurzen Titel sind doch leichte Kost, jedoch niemals seicht. Es ist nie 'easy-listening', auch wenn mancher Titel wohl mit Blick auf die Hitparaden dem Zeitgeist geschuldet ist. Was sicherlich verständlich war, denn zu jener Zeit gab es ja noch keinen wirklichen Album-Markt, der war ja erst am Entstehen.
Die langen Stücke haben es dann aber wirklich faustdick hinter den Ohren: Hervorragende Piano- und Orgeleinsätze, Gitarren, die sich wie 'ne Slide anhören, aber keine sind, gehöriger Drive abwechselnd mit einfühlsamen Passagen und immer wieder diese exzellenten Harmony-Vocals. Sicherlich haben auch die späteren Mitglieder der 1970 noch nicht existenten Eagles sehr interessiert zugehört und dann diesen Stil perfektioniert, wenn auch doch 'ne Ecke mehr 'Country'-bezogen als Gypsy.
Viele Hooks dieser Gypsy-Platte sind prägend und setzen sich bei denen im Gehör fest, die das Werk kennen, auch wenn es nur wenige sein werden. Den anderen sag ich: Alleine die vierte LP-Seite mit dem langen "Dead And Gone" sowie "Tomorrow Is The Last To Be Heard" wär den Preis schon wert. Da wird soviel Rockstimmung und musikalischer Fluss einer speziellen Dosis verabreicht, dass es nicht nur vor Jahrzehnten Spass machte, sondern nicht weniger auch heute noch. Auch "Decisions" stand Pate für viele andere Bands später.
Bevor sich die Band 1975 auflöste, hatten sie noch Nachfolgewerke herausgebracht, die jedoch nicht mehr den Genius des Debüts wiederholen konnten. Und damit reihen sich Gypsy ein in die lange Reihe von Interpreten, die man im Single-Bereich geringschätzend als 'One Hit Wonder' bezeichnete. Das gab es aber mit LPs gleichermaßen, man könnte viele Beispiele nennen...
Der Klang ist einwandfrei, nichts ist verschmiert oder undeutlich. Eigentlich erstaunlich für ein doch unbekanntes Werk, da wurde an der Soundrestauration offensichtlich nicht gespart. Im Gegensatz zur Entstehungszeit der Doppel-LP kann man nun die CD bei den bekannten Händlern problemlos erwerben und sich auf eine tolle Reise in die Vergangenheit freuen. Leider mit rund 20€ sehr teuer, was auch heutzutage kaum zur weiteren Verbreitung dieser anmachenden Platte beitragen dürfte.
Tracklist |
01:Gypsy Queen Part I (4:21)
02:Gypsy Queen Part II (2:30)
03:Man Of Reason (3:04)
04:Dream If You Can 2:51)
05:Late December (4:11)
06:The Third Eye (4:53)
07:Decisions (8:15)
08:I Was So Young (4:14)
09:Here In My Loneliness (2:58)
10:More Time (5:17)
11:The Vision (7:28)
12:Dead And Gone (10:56)
13:Tomorrow Is The Last To Be Heard (5:45)
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Externer Link:
Leider existiert die Band nicht im Internet, Kurzinfos beim
All Music Guide
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