So völlig widersinning, wie es den Anschein hat, ist der Titel der hier vorliegenden Scheibe gar nicht. Gifte sind seit Menschengedenken stets ein selbstverständlicher Bestandteil medizinischer Therapie gewesen. Fight fire with fire! Einige dieser Stoffe produziert der menschliche Körper sogar selbst. Das Wissen darum, dass »allein die Dosis (...) das Gift« ausmacht, ist so alt wie die Menschheit selbst. Paracelus' Lehrsatz, wonach »alle Dinge (...) Gift und nichts ohne Gift« sind, besitzt heute noch Gültigkeit. Interessant ist dabei, dass dies ausgerechnet einer der ersten 'ganzheitlichen' Mediziner lehrte, der sich zudem mit Chemie, Mystik und Philosophie auch mit Theologie beschäftigte. Die Kraft halluzinogener Gifte wurde gerne für spirituelle bzw. religiöse Rituale genutzt. Für Karl Marx war bekanntlich sonnenklar, dass Religion das Opium des einfachen Volkes sei.
Der moderne Mensch hat sich daran gewöhnt, in einer giftigen, potenziell lebensgefährlichen Umwelt zu leben, wobei die letale Dosis kontinuierlich angestiegen ist. Doch wir sind eben nicht nur Umweltgiften, sondern auch mentalen, emotionalen und sozialen Toxizitäten ausgesetzt. Mit genau jenen Giftstoffen setzt sich die Münchner Band Herzparasit, ihres Zeichens 'Herz-Industrial-Metaller', in ihrem neuen Album auseinander. Sie bleiben dabei ihrem mit Fromme Lämmer eingeschlagenen Weg treu und provozieren mit allem, was der 'Giftschrank' so hergibt...
Sie sind dabei beileibe nicht die ersten, die hier auf eine gezielte Schocktherapie setzen. So ist es kein Wunder, dass die Herzparasit-ischen Analysen pessimistisch und leicht morbide wirken. Das sind eben die Auswirkungen der vielfältig einwirkenden 'Gifte'...
Gleich mehrfach arbeiten sich Herzparasit am Thema 'Kirche' ab. »Unser täglich Gift gib uns heute« bis das "Kartenhaus" zusammenfällt und ein "Trümmerfeld" hinterlässt. Besonders berührt mich die Gesellschaftskritik in "Brutstätte": Entmenschlichung bis zur Menschenverachtung - das ist brutal und schonungslos... wie das wahre Leben! Als Kontrast dazu wird in "Zuckerland" die schöne neue Facebook-Welt, die Illusion von 'Freundschaft', entlarvt. Hintergründig, hypnotisch - wie im bald nur noch 'virtuellen' Leben - schleichen sich die "Giftspenden" der Botschaften dieser "Gifttherapie" ins Unterbewusstsein des Hörers. Verstört schreckt man gelegentlich hoch und stellt fest: Das geschieht ja nicht nur virtuell - das ist das echte Leben...
Die Musik an sich ist erstmal weniger Aufsehen erregend: etwas Wave, ganz viel Gothic und dazu der blankpolierte Edelstahl, den man heutzutage gerne als 'Industrial' bezeichnet. Alles schon mal gehört... Spektakulär wird diese Melange erst in Verbindung mit dem textlichen Konzept.
Dass die Hoffnung auf eine Verbesserung der beschriebenen Verhältnisse hier etwas zu kurz kommt, finde ich persönlich nicht schlimm. Früher haben wir das »No future« der Punker ein wenig mitleidig belächelt - dreißig Jahre später ist sonnenklar: Die Burschen hatten Recht!
"Gifttherapie" wirft mehr bohrende Fragen auf als fertige Lösungen zu präsentieren, und fordert somit den Hörer zum Hinterfragen von gesellschaftlichen Zuständen auf. Entwicklungen sind eben nicht 'gottgegeben' und schicksalhaft - man kann sie beeinflussen und verändern. Gift tötet eben nicht nur, sondern kann - unter gewissen Umständen - auch heilende Kräfte entwickeln.
Herzparasit hebt sich - zumindest mit diesem Album - positiv aus dem manchmal pampig-dumpfen Einerlei der Neuen Deutschen Härte hervor. Eine mal düstergraue, mal schrill-bunte Freakshow...
Line-up:
Ric-Q Winther (Gesang)
El Toro (Gitarren, Samples)
Mr. SM (Schlagzeug)
Gäste:
Jenna Jacob (Gesang - #6)
Christian Präauer [Krankheit] (Gesang - #9)
Alex Styg [Broken Mind] (Gesang - #12)
Tracklist |
01:Kammerjäger (1:59)
02:Unser täglich Gift (4:29)
03:Kartenhaus (4:12)
04:Trümmerfeld (3:43)
05:Zuckerland (3:50)
06:Was dein Herz verspricht [feat. Jenna Jacob] (4:23)
07:Brutstätte (4:05)
08:Giftgrünschnabel (4:23)
09:Schmerz ist geil Vol. 2 [feat. Christian Präauer] (4:59)
10:Giftspende (3:37)
11:Samthaut (4:46)
12:HDF [feat. Alex Styg](4:05)
13:Warme Lippen, kalter Stahl (4:05)
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Externe Links:
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