Nicht nur im Wein liegt offenbar die Wahrheit, sondern, wie uns die Gelsenkircher Progressive-Band InVertigo glauben machen will, offenbar in der Umdrehung (lat. Vertigo). Oder sollte gar das Achterbahnmodell gemeint sein? Auf eine Achterbahnfahrt nimmt "Veritas", das zweite Album der Band, den Hörer keinesfalls mit. Im Gegenteil: "Veritas" ist eine ziemlich geradlinige Angelegenheit - eine Erfolgsspur nach oben in die 'Erste-deutsche-Prog-Liga'. Kaum ein Genre hat mich in jüngerer Vergangenheit herzhafter Gähnen lassen - es scheint, als ob eine halbe Musikkategorie im eigenen Saft braten würde. Vieles nicht wirklich schlecht, aber irgendwie (für meine Ohren) ohne den zündenden Funken, aber fast immer mit einem bedeutungsschwangeren Konzept... Und in diese Tristesse kracht InVertigo mit dieser erfrischenden Klasse-Scheibe!!
Gegenüber dem 2010er Debüt Next Stop Vertigo, das die Messlatte auf ein ambitioniertes Niveau legte, konnte sich die Band noch einmal steigern. Sie wirkt deutlich gereifter und auch rockiger. Die deutlich wahrnehmbaren Anleihen beim Melodic Rock sind eine wahre Frischzellenkur für schwerblütigen Prog. Große Melodien bei gleichzeitig ungemein dichter Atmosphäre - das macht für meinen Geschmack den Reiz von "Vertias" aus.
Thematisch drehen sich die Texte zwar um die Bedeutung von Wahrheit (lat. Veritas), ohne dass man allerdings von einem klassischen Konzeptalbum sprechen kann. Gleich mehrfach blitzt genialer (Wort-)Witz auf, so wenn im Opener "Darkness" ausgerechnet Benni der Sechzehnte verbal die Dunkelheit im Vatikan zu erhellen sucht. Was er da im Mittelteil des Stücks faselt, können zwar nur des italienischen Mächtige verstehen, aber eigentlich ist das - wie so vieles, was aus dieser Ecke der Welt zu hören ist - völlig schnurz. Die Dramaturgie des Songs spiegelt die Macht dieses baulichen Ensembles im Zentrum Roms sehr anschaulich wider.
"Lullaby" beginnt - wie der Titel verspricht - wie ein Schlaflied für Kinder, das sich bereits nach wenigen Takten in einen, immer wieder von Double-Leads-Läufen angetriebenen, veritablen Rocker steigert. Der heimliche Höhepunkt (heimlich, weil man den Climax eher bei den Longtracks vermuten würde) von "Veritas" ist "Waves". Hier spielt man mit den verschiedensten Klangfarben der Keyboards: seien es folkloristische Akkordeonklänge, mächtige Hammond-Attacken oder wimmernde Mellotron-Chöre.
"Dr. Ho" steht diesem Monument kaum nach. Nach einem bombastischen Einstieg mit einer Waters'schen Bassfigur ("One Of These Days" lässt grüßen) und einer röhrenden Hammond, meint man sich zu verhören, wenn man beim Einstieg des Gesangs Far Far Away zu hören glaubt. [Ich hab diesbezüglich einen kleinen Feldversuch in meinem nähren Umfeld gestartet, der diesen Eindruck mehrheitlich bestätigt hat.] Aber keine Angst: "Dr. Ho" ist eine Klassenummer, die erfrischend straight und packend losrockt.
"Suspicion" ist der erste von zwei Songs, die die Zehn-Minuten-Schallmauer brechen. Die wörtlich Bedeutung (engl. Verdacht/Argwohn) wird schön umgesetzt: Die Eröffnung mit akustischen Klängen sowie harmonischen Melodieführungen und Chören, wird von einem 'quälenden' Keyboard-Thema jäh zerstört. Genial ist die Wahl des Instrumentes, denn nichts anderes als der organisch-analoge Klang eines Hohner Clavinets könnte dieses Thema besser interpretieren - sensationell! Die Hammond übernimmt und die gesamte Band 'groovt' sich ein... Die folgenden knapp vierzehn Minuten kann man nur als extrem kurzweilig bezeichnen - ein Hochgenuss!
"Truth" liefert uns keinen Text, dafür eine Auswahl der prominentesten Politikerlügen als Einspieler. Da gibt der Barschel x-mal sein »Ehrenwort«, Clinton beteuert sein zölibatäres, quasi nicht vorhandenes Intimleben. Ahahaha, »die Renten sind sischäh« - na klar! So sicher, wie niemand die Absicht hatte, »eine Mauer zu errichten« oder der Irak Massenvernichtungswaffen besaß. Und auch der in jeder Hinsicht limitierte Präsidentenversuch Christian Wulff fand die Pressefreiheit gut - sein »Ehrenwort« darauf!!
Der Zwanzig-Minüter "Mayfly" fällt textlich aus dem Rahmen. Statt mit 'Dichtung und Wahrheit' beschäftigen sich InVeritas mit Eintagsfliegen [engl. Mayfly] und: Ist unser erbärmliches Menschenleben erdgeschichtlich betrachtet nicht wie das Leben einer solchen? Musikalisch bedient man sich hier der verschiedensten Einflüsse: Neben dem klassischen Prog, sind auch poppig-eingängige AOR-Riffs, überaus melodische Classic Rock-Anleihen, die manchmal frappierend an U. K. erinnern, und sogar sehr dezente Reggae-Einschübe wahrnehmbar. Ganz großes Kopfkino wird hier beboten...
Mit "Veritas" machen InVertigo einen großen, vielleicht entscheidenden Schritt in Richtung 'Erste-Prog-Liga' sowie einen weiteren aus dem Schatten großer deutscher Prog-Vertreter wie RPWL und Vanden Plas heraus. Diese Scheibe stellt eine Bereicherung für die Sammlung eines jeden Prog-Fans dar und kann bedenkenlos erworben werden - darauf gebe »ich Ihnen mein Ehrenwort, ich wiederhole: mein Ehrenwort!!!«
Line-up:
Sebastian Brennert (vocals, piano)
Michael Kuchenbecker (keyboards)
Jacques Moch (guitar)
Matthias Hommel (bass, pedals)
Carsten Dannert (drums, percussions)
Gäste:
Marek Arnold (saxophone - #7)
Niels Löffler (guitar solo - #6)
Julia Gorzelanczyk (add. vocals - #4, 5, 7)
Hey Jo-Girls-Choir [Bianca, Catharine, Lena, Michelle,Eileen, Petra, Julia] (choir - #2)
Tracklist |
01:Darkness (8:27)
02:Lullaby (5:58)
03:Waves (7:48)
04:Dr. Ho (7:31)
05:Suspicion (13:38)
06:Truth (4:37)
07:The Memoirs Of A Mayfly (21:50)
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