Kaltwetterfront / Inkubationszeit
Inkubationszeit Spielzeit: 38:02
Medium: CD
Label: Sireena Records, 2009 (1980)
Stil: Deutsch Rock, Punk


Review vom 17.11.2009


Markus Kerren
Sireena Records bringen einmal mehr Deutschland, einmal mehr Niedersachsen, einmal mehr die Musikhochburg Hannover zurück auf die musikalische Landkarte. Angenommen hat sich das auf Wiederveröffentlichungen spezialisierte Label diesmal der 1978 gegründeten Truppe Kaltwetterfront, die schließlich im Jahr 1980 ihr Debütalbum "Inkubationszeit" auf den Markt brachte. Aushängeschild war sicherlich die Sängerin und Keyboarderin Anna (alias Helga Othenin-Girard), die zwar nicht alle, aber doch die meisten Tracks der Scheibe einsang.
Im Angebot hatte das Quartett eine Mischung aus Punk- und Deutsch Rock, wobei aufgrund der Simplizität des Songwritings und des Sounds erstgenannter Stil doch deutlich überwiegt. Sehr viel Wert legten Kaltwetterfront auf - politisch korrekte - Texte, mit denen die musikalisch doch noch sehr beschränkten Möglichkeiten etwas aufgefangen wurden. Da ist des Öfteren ein Querverweis zu Ton, Steine, Scherben oder auch einer Nina Hagen der späten Siebziger nahezu unüberhörbar. Und auch wenn der Gesang von Anna insgesamt sehr gut zu den hier vorliegenden 14 Tracks passt, so halte ich es doch etwas vermessen, sie - wie im Promozettel verbrochen - auf eine Stufe mit Annette Humpe (die im gleichen Jahr das erste Album mit ihrer Truppe Ideal raus brachte) zu stellen.
Wie dem auch sei, selten hat unsere Grafik 'Zeitreise' treffender zu einem Album gepasst, wie zu "Inkubationszeit". Denn nicht nur der Sound an sich, sondern vor allem die Texte versetzen einen unmittelbar um zirka dreißig Jahre zurück in eine Zeit, in der Baader-Meinhoff zwar schon Geschichte waren, die Bereitschaft des Volkes, sich gegen den Staat aufzulehnen und dafür in Massen auf die Straßen zu gehen, aber nach wie vor ungebrochen war. Eine Zeit, in der (auch dank Nina Hagen?) das so genannte 'schwache Geschlecht' kein Blatt mehr vor den Mund nahm, wenn es darum ging, offen ihren Unmut gegenüber maskulinen Herrschafts- und selbstherrlichen Besitzansprüchen gegenüber dem weiblichen Partner freien Lauf zu lassen.
All diese Themen werden zelebriert, angeprangert und mit Inbrunst verbraten. Aber auch weitere Missstände, wie Beamten-Willkür oder die deutlich zunehmende Kommerzialisierung werden deutlich angesprochen. In "Disco-Boy" bekommt die damals so angesagte Welle ganz ordentlich ihr Fett weg (abgeschlossen mit einem aus voller Seele von allen vier Musikern gebrüllten »…ARSCHLOCH!!!…«). Für "Karl-Heinz" hat man nicht nur das Riff von Velvet Undergrounds "Sweet Jane" für sich in Anspruch genommen, sondern sich auch noch ganz offensichtlich an dem Text dieses Tracks orientiert. Daran sollte sich jedoch kein großer Geist stören, denn ihre Botschaft konnten Kaltwetterfront damit mehr als deutlich rüberbringen.
Auch "Geschafft" hört sich ganz verdächtig nach etwas sehr Bekanntem an (aber selbst wenn es um mein Leben gehen würde, ich komm' einfach nicht drauf, welcher Song es ist). Anna hatte irgendwie keine Lust mehr auf Männer, wie sie eindrucksvoll bei "Bett-Mann" oder auch "Abgewöhnen" (»…ich nehm' jetzt meine Zahnbürste und steck' sie mir ins Ohr, dann lass' ich dich alleine mit deinem steifen Rohr…«) zum Ausdruck bringt und zum Ende der Platte wird die Scheinheiligkeit der "Schönen neuen Welt" aufs Korn genommen.
"Inkubationszeit" ist ein durchaus unterhaltsames Album, selbst wenn es sich musikalisch in sehr überschaubarem Rahmen bewegt und auch textlich sehr im damaligen Zeitgeist verfangen ist. Nicht zeitlos also, sondern eher eine Momentaufnahme aus der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1980. Aber es macht auch sehr viel Spaß, da man gar nicht anders kann, als noch einmal gedanklich in diese Ära abzutauchen, inklusive aller guten und schlechten Erinnerungen.
Nicht viel später nach Erscheinen dieses Debütalbums verließ der Gitarrist und Hauptsongwriter Bernie Kaufhold die Band und im Jahr 1982, zur Hoch-Zeit der Neuen Deutschen Welle, erschien noch eine weitere Scheibe, "Wenn kaputt, dann wir Spaß". Aber danach war Schicht im Schacht und Kaltwetterfront waren Geschichte. Das sind sie zwar nach wie vor, aber immerhin dürfen wir uns jetzt dank Sireena Records wieder an "Inkubationszeit" erfreuen. Ganz sicher nicht nur für Nostalgiker interessant, sondern auch ein Stück deutscher Rock-Geschichte.
Line-up:
Michel von Eye (Schlagzeug, Gesang)
Bernie Kaufhold (Gitarre, Gesang)
Helga 'Anna' Othenin-Girard (Orgel, Gesang)
Asche (Bass, Gesang)
Tracklist
01:Bett-Mann
02:Fickerina
03:Karl-Heinz
04:Abgewöhnen
05:FfurZZ
06:Jedem das Seine
07:Vinyl
08:Im Schatten
09:Durch die Wand
10:Geschafft
11:Disco-Boy
12:Revolverheld
13:Zeiten
14:Schoene neue Welt
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