'Kamelot ist tot!'... oder wie?!
Nein - ganz und gar nicht! Und das trotz des Abgangs von Roy Khan. Etwas Schlimmeres hätte einer Band wie Kamelot (offenbar) wohl kaum passieren können, als ihren Front-Charismatiker zu verlieren - zunächst wegen Burn-Outs und dann auf Grund religiöser Selbstfindungssymptomen, die ihn sein Leben umkrempeln ließen. Klar ist die Gesangssituation seit Längerem das Thema Nummer eins, wenn es um Kamelot geht. Und immerhin habe ich es geschafft, den Namen Khan erst in der zweiten Zeile zu erwähnen. Aber eines gleich vorweg: Kamelot ist mitnichten tot...
Im Gegenteil. Man ließ sich nie aus der Bahn werfen! Live half zwischenzeitlich der italienische Sängerstar Fabio Lione aus. Und gerade Mal zwei Jahre nach "Poetry For The Poisened" legen Bandboss Tom Youngblood & Co. sogar das nunmehr zehnte Studioalbum vor - "Silverthorn". Am Gesang - ausgewählt unter angeblich Hunderten Bewerbern: kein Geringerer als Tommy Karevik, ein heimlicher Star. Als Frontmann der Prog-Metaller Seventh Wonder erregte der Schwede schon länger großes Aufsehen im Untergrund. Jetzt steht er im Vordergrund - und wie! Karevik hat großen Anteil daran, dass auch "Silverthorn" zum Pflichtkauf für qualitätsverwöhnte Power Metal-Fetischisten wurde.
"Manus Dei" gibt als instrumentales Intro die Marschrichtung vor: Dark Fantasy! Ein lyrischer Start; dann treiben bombastische, orchestrale und chorale Elemente den Puls nach oben. Und schon hier wird deutlich, dass die Band in Sachen Chorarbeit variiert hat. Die dramatischen Zuspitzungen, die gleich zu Beginn angedeutet werden, erinnern an "Carmina Burana". Auch die 'symphonische' Seite scheint gegenüber früheren Glanztaten noch einmal ein Stück weit ausgebaut, ebenso wie der Prog-Faktor. All das könnte damit zu tun haben, dass erstmals der Klassik- und Prog-Affine Keyboarder Oliver Palotai neben Youngblood großen Anteil am Songwriting hatte.
Und nun der 'Elchtest' für Tommy... "Sacrimony (Angel Of Afterlife)" geht schnell, mit Hochdruck und technisch versiert nach vorn. Keine Überraschung. Das Break für die Strophe - und hier, im 'normal' hohen Gesangsbereich muss man schon ganz genau hinhören, um zu erkennen, dass es NICHT Khan ist. Denn Karevik agiert ähnlich elegisch und theatralisch. Doch dann der Oktavsprung nach oben. Erstens: Wow, das ist brillant - Karevik ist ein sensationeller Gesangstechniker! Und zweitens: Plötzlich klingt nichts mehr, wie es war. Im hohen Bereich wirkt (der entsetzlich starke) neue Frontmann viel mehr 'metal', höher, klarer. Nein, nicht etwa 'besser', sondern anders. Gut so!
Und sonst? Viel Gutes. Der Song ist ein Brett: Ein verproggter Mix aus geraden und ungeraden Rhythmen, ein hymnischer Refrain, der hängen bleibt, und: gleich zu Beginn eine weibliche Gaststimme, die sogar einen kompletten Refrain allein singt. Und sie bleibt nicht allein an der Frauenfront. Hier gehen Kamelot neue Wege und haben gleich drei Gastsängerinnen am Start, die bei rund einer Handvoll Stücken ihre Rolle spielen bzw. singen: Elize Ryd ( Amaranthe), Alissa White-Gluz ( The Agonist) und keine Geringere als Amanda Somerville. Diese Vielstimmigkeit kommt nicht von ungefähr, hat sich doch Bandboss Tom Youngblood für das lyrische Konzept doch wieder etwas Besonderes einfallen lassen: »It's the story of a young girl who dies in the arms of her two twin brothers, taking the three siblings' big secret to her grave. The songs on Silverthorn talk about despair, a sense of guilt and the pursuit of truth.«
Nach dem Opener schaltet die Band lange Zeit kaum zurück. Es bleibt Druck im Kessel, das ist prima! "Ashes To Ashes" und "Torn" sind aufwühlend, die Melodien teils dramatisch und dramatisch gut. Während bei "Ashes To Ashes" der Ehrfurcht erregende, düstere High-Tech-Drive besticht, ist es bei "Torn" etwas, das Kamelot von vielen anderen Bands abhebt, nämlich der außerordentlich große Tonumfang der (Gesangs-)Melodien. Tommy Karevik zelebriert das par excellence und bringt auch diese emotionale Hin- und Hergerissenheit derart gut rüber, dass man als Hörer wie im Bann den vielen Wechseln, Breaks und melodischen 'Ausreißern' von "Torn" lauscht. Das ist hochspannend!
Auch im "Song For Jolee" macht Karevik eine gute Figur - eine hinreißende Ballade, die am Ende nochmal Power aufbaut. Nicht so spektakulär, aber routiniert. Mit "Falling Like The Fahrenheit" ist ein weiterer eher ruhiger, getragener Song auf dem Album vertreten - schön, wie hier die weiblichen Gesangsparts auch als gespenstischer Hintergrund-Effekt eingesetzt werden. Auch "My Confession" ist so eine Art 'In between'-Song, wenn auch definitiv keine Ballade: eine sehr harmonische Melodic-Nummer im oberen Mitteltempo, in der Hook mit einem Hauch von Mittelalter, sehr eingängig und mit Pathos. Und: schon wieder so ein herrlicher Oktavsprung sowie umwerfende Kopfstimmenparts von Karevik. Mit "Veritas" kommt dann eine andere berühmte Facette Kamelots zur Geltung: ein märchenhaftes, bittersüß-elegisches Intro und ein tonnerschwerer, brutal schleppender Refrain, arrangiert als Call-And-Response zwischen Lead-Gesang und Chor. Gänsehaut!
"Solitaire" ist nach dem Opener der zweite Tempo-Kracher des Albums: eine sensationelle Rhythmussektion, singende Lead-Gitarren und eine Gesangsmelodie, die über allem thront. Klasse, wenn auch zugegebenermaßen nicht so Klassiker-verdächtig wie einst zum Beispiel "Center Of The Universe". Mit dem Titelsong "Silverthorn" machen Kamelot schließlich ihre Palette komplett und liefern Theatralik pur. Ein monumentales Orchester, kurzatmige Wechsel zwischen Double Bass-Salven und einem Break für den butterweichen Chor, der hier fast wie ein Kinderchor daherkommt ... das Stück mehr 'aufgeführt' als bloß gespielt. Karevik kann auch das und bewirbt sich heimlich für die Royal Shakespeare Company!
Mit dem langen, in drei Teile gegliederten "Prodigal Son" baut die Band diese theatralische Kunst noch ein Stück weit aus. Der Start überrascht mit Orgel und Kirchenchor, dazu bittersüßer Gesang - eine Stimmung, die in Teil zwei von schwerem Mid-Tempo-Riffing jäh zersetzt wird. Und zum Ende hin wird natürlich wieder eine opulente akustische Bombast-Kulisse aufgebaut - nicht erschlagend, sondern durch unzählige kleine Details, die sich zu einem großen Ganzen aufaddieren. "Prodigal Son" ist der legitime Nachfolger von "Elisabeth" vom 2000er "Karma"-Album!
Unterm Strich vereint "Silverthorn" alles, was Kamelot so besonders macht: das Bombastische, das Geheimnisvolle, die Details, die Handwerkskunst. Und ein paar neue Kniffe, um sich nicht selbst zu wiederholen, sind vorhanden. Das Songmaterial überzeugt - es fehlen Stücke mit 'Hit-Verdacht', dafür versprechen einige der Songs viel Tiefgang für unendlich viele Hördurchläufe. "Silverthorn" ist ein Album, das wächst. Der neue Sänger Tommy Karevik ist klasse und passt, auch wenn es sicher solche Fans geben wird, die den Abgang Khans kaum verschmerzen werden.
'... Es lebe Kamelot!'
Line-up:
Thomas Youngblood (guitars)
Tommy Karevik (vocals)
Casey Grillo (drums)
Sean Tibbetts (bass)
Oliver Palotai (keyboards)
Guest musicians:
Elize Ryd (vocals)
Alissa White-Gluz (vocals)
Amanda Somerville (vocals)
Tracklist |
01:Manus Dei (2:12)
02:Sacrimony [Angel Of Afterlife] (4:39)
03:Ashes To Ashes (3:58)
04:Torn (3:51)
05:Song For Jolee (4:33)
06:Veritas (4:34)
07:My Confession (4:33)
08:Silverthorn (4:51)
09:Falling Like The Fahrenheit (5:06)
10:Solitaire (4:56)
11:Prodigal Son (8:52)
Part I - Funerale
Part II - Burden Of Shame
Part III - The Journey
12:Continuum (1:48)
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Externe Links:
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