Dass Keimzeit bislang meinen musikalischen Lebensweg nicht ernsthaft kreuzte, hat durchaus nachvollziehbare Gründe. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs geboren, konnte ich die legendären Gigs der Band in den Achtzigern nicht mal aus den Augenwinkeln verfolgen. In der Freakszene der DDR, die sich trefflich 'Blueser' nannten, erspielten sich die vier Geschwister Leisegang einen wahren Kultstatus.
Der nach der Wende erfolgte Durchstart lief ebenfalls komplett an mir vorbei - schließlich waren meine Southern Rock-Helden wieder zurück. Mit dem manchmal schrulligen, hochgradig poetischen und zumeist ziemlich kopflastigen DDR-Rock fremdelte unsereins seinerzeit ohnehin etwas. Nee, halt - Die Prinzen fand ich damals extrem witzig... und ich habe die fundierte musikalische Ausbildung der gesamten DDR-Musikszene staunend bewundert, nachdem man erstmals hinter die Kulissen blicken konnte!
Derart unbeleckt an eine Rezension zu gehen, stellt sich manchmal nicht als schlechteste Voraussetzung heraus. Die Idee, mit einem Sinfonieorchester zu arbeiten, mag zwar nicht revolutionär erscheinen, aber die Umsetzung von Keimzeit und dem Deutschen Filmorchester Babelsberg ist schon reichlich ausgefallen. Hier wurden nicht einfach altbekannten Songs ein paar Orchesterarrangements hinzugefügt, sondern das gesamte Liedgut komplett neu arrangiert - und zwar auf Augenhöhe. Die Frage, wer hier Koch oder Kellner ist, stellt sich zu keinem Zeitpunkt. In den drei Jahren gemeinsamer Arbeit hat sich etwas komplett Neues herausgeschält, das die Grenzen zwischen U- und E-Musik verschwimmen lässt oder - je nach Standpunkt - neu zieht.
Deshalb erinnert "Zusammen" auch in erster Linie an klassische amerikanische Entertainer wie Frank Sinatra oder ihre deutschen Pendants à la Harald Juhnke (bevor jetzt einer mit dem Meckern loslegt: Irgendwie war das eine coole Socke!!). Dieses 'Crooning' paart sich in erfrischender Weise mit dem Pop und frechen Wortwitz von Prinzen & Konsorten sowie der Nachdenklichkeit von Liedermachern wie Klaus Hoffmann, der sich mir immer dann aufdrängt, wenn Norbert Leisegang den Chansonier gibt (und das ist gewiss alles andere als selten).
Fast ordnet sich die Rockband in den Arrangements dem Orchester unter. Sattes Gebläse übernimmt wesentlich häufiger als die Gitarren die Melodieführung, Streicher dominieren 'Spatz' Sperlings Tasten - beides nicht zum Schaden der Originalversionen. Bass und Schlagzeug sind nicht in erster Linie für den Groove verantwortlich, sondern ergänzen den ohnehin enormen Zug des Orchesters bestenfalls. Lange Rede - kurzer Sinn: Keimzeit und das Filmorchester Babelsberg verschmelzen auf "Zusammen" zu einem einzigen, warm-pulsierenden Klangkörper. Kann es etwas Schöneres geben?
Das Repertoire deckt 32 Jahre Keimzeit ab, darunter die alten Klassiker wie "Kling Klang", "Singapur" oder "Maggie" und solche jüngeren Datums, wie "Seltsamer Vogel" oder "Valentintagsblumen". Leider fand - aus welchen Gründen auch immer - kein Titel vom aktuellen Studioalbum Kolumbus den Weg auf "Zusammen".
Neben den stets einfühlsamen Instrumentierungen gefallen mir Keimzeits Texte unheimlich. Sie sind für mich (im positiven Sinn) 'typisch ostdeutsch' - d. h. von einer hochpoetisch-sensiblen Schönheit der Sprache geprägt, ebenso hintergründig wie tiefsinnig. Metaphern erhalten eindeutig den Vorzug gegenüber ausgelutschten Plattitüden - deshalb wird's auch niemals peinlich, wenn's tiefpersönlich wird... und das ist oft der Fall, besonders bei den Songs vom "Stabile Währung Liebe"-Album. Entwaffnend 'naiv' ist manche Aussage - das nenne ich mal eine wirklich gelungene 'Abrüstung':
»Du sagst: Fremd in fernen Ländern
Kämpfte er für sein Vaterland.
Ach? War das wirklich so???«
Mit "Rohfassung" - dem das Zitat entliehen ist - und "Der verkaufte Kasper" sind zwei absolut überzeugende Neukompositionen mit nachdenkenswerten Texten dabei und runden mit diesem neu aufgeschlagenen Kapitel den Liederzyklus gekonnt ab.
Wer's gerne rockig mag, sollte sich vielleicht besser an die Originalalben halten. Keimzeit & Das Deutsche Filmorchester Babelsberg sind eine eigenständige 'Band', sprich: eine Formation, die in einem völlig anderen Kosmos unterwegs ist.
"Zusammen" bietet ein buntes Potpourri aus Chanson, Pop, Klassik, Swing, Bossa Nova, 'Liedermaching' und allen anderen kunterbunten Zutaten, die gute Musik ausmachen können. Oder ums mit Udo Lindenberg zu nuscheln: »Ich bin absolut verzückt!«
Line-up:
Prof. Bernd Werfelmeyer (Dirigent)
Torsten Scholz (Konzertmeister)
Norbert Leisegang (Gesang, Gitare)
Andreas 'Spatz' Sperling (Klavier,Keyboards, Orgel, Gesang)
Martin Weigel (Gitarre, Klavier, Gesang)
Sebastian Piskorz (Flügelhorn, Trompete, Waldhorn, Gesang)
Hartmut Leisegang (E-Bass)
Krishan Zeigner (Schlagzeug)
Werner Klemm (Solocello)
Dagmar Quies, Susanne Stoof-Scholz, Iljana Schindler, Christine Lewek (Violinen)
Detelf Penkert, Maren Pichl, Tilo Röding, Chinatsu Nakajima, (Violinen)
Jürgen Grothe,Angelika Maruschat,Wolfgang Rönfeldt (Violinen)
Andreas Quade, Roswitha Popp, Gerhard Dräger (Violas)
Beate Zilias, Gertrude Miehe (Celli)
Johannes Ragg (Kontrabass)
Heiko Tschauner, Marta Masini (Flöten)
Ingolf Börnchen, Kirstin Lagemann (Oboen)
Christian Balcke, Ulrich Tewes (Klarinetten)
Annegret Holjewilken, Thomas Rössler, Susanne Kugler (Hörner)
Rainer Wirth, Dennis Teichmann (Trompeten)
Ralf Zickerick, Uwe Brasch, Tilmann Hennig (Posaunen)
Cornelia Büttner (Harfe)
Andreas Schmeisser (Pauken)
Martin Krause (Percussion)
Musikalische Gäste:
Felix Meyer (Gesang)
Oliver Rohrbeck (Sprecher)
Ralf Benschu (Saxophon)
Tim Lorenz (Percussion, Schlagzeug)
Christian Schwechheimer (Percussion, Schlagzeug, Gesang)
Jürgen Block (Percussion, Gitarren)
Tracklist |
01:Leuchte, Leuchte, Leuchtturm (3:22)
02:Maggie (3:26)
03:Seltsamer Vogel (3:18)
04:Singapur (5:16)
05:Ein schöner Tag (3:50)
06:Flugzeuge (6:03)
07:Breit (4:37)
08:Zweiundzwanzig (2:43)
09:Rohfassung (3:51)
10:Valentinstagsblumen (3:50)
11:Picassos Tauben (4:01)
12:Kling Klang (3:34)
13:Gold für einen Ring (4:55)
14:Der verkaufte Kasper (4:30)
15:So (4:27)
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