'Liveware' kommt aus der IT-Abteilung ... von denen, die gerufen werden, wenn der Computer spinnt. Wenn es nicht an der Hardware und auch nicht an der Software liegt, dann ist es wohl ein 'Liveware'-Problem - es muss mit dem Lebewesen zu tun haben, das die Kiste bedient. Das Wortspiel ist ein bisschen spöttisch. Die sechs Musiker aus Oer-Erkenschwick in NRW, die sich dieses Wort als Bandnamen ausgesucht haben, erkennen darin noch mehr Potenzial und schöpfen es aus. Eine Ansammlung von Komponenten aus Fleisch und Blut? Für eine Progressive-Band wie Liveware wie geschaffen!
'Progressive' ist dabei eines der Attribute, das man der Band ohne Weiteres anheften darf. Denn das verspricht technische Qualität, ideenreiches Songwriting und Überraschungen. Wer 'progressive' sein will, hat im Prinzip zwei Möglichkeiten. Erstens: Er hält sich an die Spielregeln: Vertrackt, komplex, tiefgängig und technisch toll. Und bitte noch mit einem Markenzeichen - ein schräges Instrument, sonderbarer Gesang, ein Aufsehen erregendes Konzept. Zweitens: Alle Spielregeln missachten. Auf beiden Wegen kann man gewinnen und verlieren. Liveware entscheiden sich zunächst für Variante eins. Der Opener "Nothing To Fear" zeigt eine äußerst qualitäts-konservative Prog Metal-Kapelle mit ausgeprägtem Spürsinn für gute Melodien und vielschichtige Komposition.
Über kreativen Akzenten der Rhythmussektion entwickelt sich eine Strophe nahtlos zu einem Chorus, der wehmütig in einer immer wiederkehrenden, instrumentalen Hookline endet - der rote Faden durch eine achteinhalbminütige Perle in Sachen Songarchitektur. Wie sich hier Gesangs- und Instrumentalparts nahezu übergangslos ineinander fügen; wie Tempo, Rhythmus und Schwerkraft variiert werden, das ist schon klasse. Beim Drehen der großen Song-Spirale taucht der Refrain auf immer anderen Levels immer wieder auf.
Doch wie und wo sind Liveware nun eigenständig - wo ist das schräge Instrument, der sonderbare Gesang, welches Markenzeichen auch immer? Nun, da agieren sie nicht allzu auffällig. Aber man kommt beim Hören selten in Versuchung, darüber nachzudenken. Denn die Qualität spricht auch ohne einen Innovationspreis für sich; auch damit lässt sich punkten. So viele kleine 'Extras' ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, wie die Orgel, die dem ansonsten modern angehauchten Prog Metal diesen Schuss Retro Prog verleiht. Oder die geschmeidigen Gitarren-Doppel-Soli. Und immer wieder diese episch-atmosphärischen Bombast-Melodien - bestechend schlicht, aber stets in eine ganz große Dramaturgie eingearbeitet.
Doch dann: Ab dem Titeltrack "A Look Inside The Mirror", also schon ab dem zweiten Song des Albums, ändert die Band die Rezeptur ihrer Musik merklich. Immer mehr Elemente des Melodic Rocks oder des klassischen Hard Rocks tauchen auf. Dabei vernachlässigt die Band aber nicht ihre progressive Ausrichtung - die Elemente werden nur anders portioniert. Die meisten Songs bestehen auf der einen Seite aus straighten Hymnen und auf der anderen Seite aus technisch raffinierten Instrumentalpassagen.
"A Look Inside The Mirror" erinnert dadurch stellenweise an Circus Maximus, die seit jeher Prog Metal mit Melodic Rock garnieren. Mit "When Winter's Gone" und "Dreams Of May" testet man anschließend verstärkt das eigene Talent zum Schreiben von Rockballaden. "Dreams Of May" wäre bis zu einem gewissen Grad sogar massentauglich: Eine sehr emotionale Power-Nummer, technisch edel unterlegt und von Sänger David Loga mit viel Seelenschmerz präsentiert. Das geht runter wie Öl, hat aber vielleicht in seiner strukturellen Schlichtheit zu wenige 'Kanten'?
Ein '?' könnte auch hinter "Spread Your Wings" und "Ingrained" stehen - aber ganz einfach deshalb, weil die Band dem Hörer hier etwas auftischt, was der erst einmal in seiner Direktheit verdauen muss. Nein, 'verdauen' wird er es schnell. Aber nicht schnell einordnen - das ist es. Das sind erst einmal Hard Rocker mit furiosem Double Bass-Dampf - aber sie stecken voller faszinierender Wendungen vom 'Groben' ins Diffizile, von der körperlichen Nackenmuskel- zur gefühlsbetonten Bauch-Nummer.
Interessant ist das allemal, wenngleich die Songs auch ein kleines Überzeugungsproblem haben. Das liegt wohl auch an der Erwartungshaltung nach besagter Entscheidung der Band, das Album sehr komplex und episch zu beginnen. Folglich stellen sich nach dem großspurigen Start oft die Fragen: Kommt noch mehr von der Sorte? Auf was soll ich mich einstellen? Dramaturgisch hat die Band die eigene Latte sehr hoch gelegt. Und sie kommt noch mal an den Opener heran. Nach viel starkem, aber 'leicht Verdaulichem' Material entfaltet sich das großartige "Mid September's Eve".
Mit dem Neunminüter gelingt eine weitere vielschichtige Großtat, die so ein bisschen an frühe Enchant erinnert. Es beginnt hauchzart und endet in einem fesselnden Finale. Dazwischen liegen mitreißende instrumentale Metamorphosen, in denen die Band das Potenzial von zwei Gitarren, einem Keyboard und einer versierten Rhythmussektion einfach klasse ausspielt. Das ist handwerklich stark und trifft zudem voll ins Gefühlszentrum. Hier werden Liveware ihrem Namen voll gerecht - ihre Musik 'lebt' in vielerlei Hinsicht.
Dieses Debütalbum ist ein wirklich starkes Stück. Stark, weil die sechs Musiker mit "Nothing Left To Fear" und "Mid September's Eve" zwei kreative Hochkaräter geschrieben haben, und stark, weil sie sich bei einigen anderen Stücken Mut zum Ausprobieren beweisen. Man darf sehr gespannt sein, was da noch kommt - und für die Zwischenzeit das Album "A Look Inside The Mirror" genießen und analysieren und bei solchem Prog-Nachwuchs ohne Sorgen in die Zukunft schauen.
Nach dem Schreiben dieser Zeilen frage ich die Band nach ihren Einflüssen aus ihrer Sicht: »Von den alten Rockbands wie AC/DC, Deep Purple, Toto, Journey über Prog-Bands wie Dream Theater, Queensrÿche, Symphony X bis hin zu modernen Rockbands.« Ah ja ...
Line-up:
David Loga (vocals)
Christoph Martinetz (guitars)
Andreas Kohaupt (guitars)
Max Kettler (bass)
Matthias Martinetz (drums)
Lukas Martinetz (keyboards, piano)
Tracklist |
01:Prelude (1:02)
02:Nothing Left To Fear (8:25)
03:A Look Inside The Mirror (5:39)
04:When Winter's Gone (6:06)
05:Dreams Of May (4:51)
06:Mid September's Eve (9:15)
07:Spread Your Wings (7:20)
08:Ingrained (8:23)
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