Es gibt wohl in der an dämlichen Kategorisierungen nicht armen Musikszene kaum eine hirnrissigere Schublade als den so genannten 'Post Rock'. Was soll - in drei Teufels Namen - nach dem Rock kommen? Diese Benennung impliziert, dass - analog zu dem Begriff Moderne/Postmoderne, der bei der Namensgebung wohl Pate gestanden hat - der 'Rock' als eine vergängliche Zeiterscheinung betrachtet wird und durch etwas Neues, Nachfolgendes ersetzt werden müsse. Da der 'Post Rock' im Jahr 1994 initiiert wurde, müssten wir uns derzeit in der 'Transpost Rock'-Ära befinden - nur, was folgt dann? Eine absurde Vorstellung, die sich Long Distance Calling offensichtlich nicht zu eigen machen wollen. »...wir sehen Long Distance Calling (...) nicht als 'Post Rock' - es ist einfach Instrumental Rock.« Genau, werte Herren, noch das Wörtchen 'Progressive' davor gesetzt und schon kann man das voll und ganz unterschreiben!
Ihren neuen Longplayer haben die Münsteraner einfach mit dem Bandnamen betitelt, "Long Distance Calling". Ein distinguiertes Understatement, denn ihnen ist ein kleines Meisterwerk gelungen, dem ein hochtrabender Titel als Krönung gereicht hätte. Auch hier wieder gepflegtes Tiefstapeln: »Wir sind alle nur kleine Staubkörner im Universum. Es ist unser entscheidendes, drittes Album, deshalb haben wir es ganz bewusst "Long Distance Calling" betitelt - als klares Statement.« Sympathische Burschen...
"Long Distance Calling" muss man zunächst zweimal in kompletter Länge hören und dann genüsslich 'sacken' lassen. Wow, was für eine Wand! In Zeiten von 'progressiven' Überproduktionen weiß zunächst einmal die 'cremig'-warme Inszenierung, die nicht auf effekthascherische 'Frickeleien' sondern auf Melodien setzt, zu gefallen. Die teilweise bestechenden Melodiebögen lassen nicht eine Sekunde lang den fehlenden Gesang vermissen. Gut, dass auch Gesangseinlagen bei Long Distance Calling funktionieren, beweist der gelungene Gastauftritt des Amored Saint-Sängers John Bush (Ex-Anthrax) bei "Middleville", was aber eher als gelungene Episode zu sehen ist.
Was
Long Distance Callings Subsumierung unter den Begriff 'Post Rock' veranlasst haben könnte, sind die ausufernden Songstrukturen, die sich ständig wiederholenden Klangmuster und das Wechselspiel zwischen minimalistischen und orchestralen Arrangements. All dies ist auf "Long Distance Calling" zu finden -
»ein Wechselbad der Gefühle« wie es ein geschätzter Kollege so treffend beschrieb.
Eine wahre Flut von Adjektiven könnte man jetzt hier vom Stapel lassen. Atmosphärisch, ja organisch-warm sind die komplexen Klangbilder gewoben und mit facettenreich gesetzten Farbtupfern gespickt. Die Songs stellen einen stetig fließenden, breiten Strom dar, der das sonst übliche Strophe/Refrain/Bridge/Solo-Korsett sprengt und auflöst. Mal hypnotisieren brachiale Gitarrenriffs ("Arecibo") den Hörer, mal treiben sie denselben in progressive, fiebrige Wahnzustände ("Invisible Giants"). Mein Lieblingsstück ist ganz klar "The Figrin D'an Boogie" (keine Angst, hier wird nicht
Status Quo rezitiert), weil hier sehr geschickt mit verschiedenen Stimmungen und Tempiwechseln gespielt wird. Bei 1 Minute 20 erinnert das packende Riff gar an
Pink Floyds "Sheep".
Die stahlharten Stimmbänder
John Bushs in "Middleville" fügt der Gastsängertradition bei
Long Distance Calling ein weiteres Kapitel hinzu. War es beim Erstling "Satellite Bay"
Peter Dolving (
The Haunted, Mary Beats Jane), so glänzte beim Vorgänger
Avoid The Light Katatonias Jonas Renkse. Konsequenterweise werden hier die Gesangseinlagen wohltuend in den Hintergrund gemischt und wetteifern nicht mit dem instrumentalen Arrangement. Das abschließende "Beyond The Void", das mit Abstand längste Stück, entführt den faszinierten Hörer in 'waberige' Klang- und Traumlandschaften.
Um das Fazit kurz zu gestalten:
Long Distance Calling ist mit dem gleichnamigen Album der erste Geniestreich ihrer relativ kurzen Karriere gelungen. Ein pfiffig-intelligentes Stück progressiver Rockkultur und
9 von 10 RockTimes-Uhren erscheinen hier mehr als angebracht.