Zugegeben, selbst als Liebhaber des Melodic Rock rechne ich nicht unbedingt oft mit richtigen Krachern. Auch wenn ich Monat für Monat nach Nachschub lechze - ich weiß eben ziemlich genau, was ich zu erwarten habe. Um so geplätteter bin ich von der akustischen Infusion der zweiten Los Angeles. Nicht, was das stilistische Spektrum angeht - nein, nein, Experimente werden hier nicht gemacht. Aber die schiere Qualität macht "Neverland" schon zu einem Album, das man nicht alle Monate in die Greifer bekommt.
Überzeugungszeit: geschätzte vier Takte. Ein rasantes Drumfill, dann eine groovende Klavier-Hookline, darüber eine Solo-Gitarre, als nächster Schritt noch aufsteigende Streicher-Melodien - eine verträumte Atmosphäre, und das Kribbeln ist perfekt. Was kommt als nächstes? Ein Break. Reingelegt... Die ersten 40 Sekunden sind 'nur' ein Intro, das mich in die Erwartung versetzt, irgendwas in Richtung Giant zu bekommen - der Klang der singenden Gitarren, der Groove der Klavier-Hookline... in Los Angeles weiß man offensichtlich ganz genau, wie man den AOR-Fan mit der Sehnsucht nach Überdurchschnittlichem um den Finger wickelt!
Neustart: ein flotter Brummelbass zu atmosphärischen Keyboard-Vibes und ein ruheloses, detailverliebtes Gitarrenriff vom Schlage eines Mike Slamer, das mit viel Finesse und Lässigkeit aus dem Ärmel gezockt wird. Bei einer Minute Spielzeit bin ich diesem Album schon zum zweiten Mal verfallen. Der Titeltrack "Neverland" ist ein fantastischer Opener, der im Weiteren schon mal all die Vorzüge des Schwachstellen-losen 53-Minuten-Machwerks auf dem Silbertablett serviert. Dazu gehören intelligent abwechslungsreiche und knackig vordergründige Drums, ein unermüdlich aktiver Bass und kiloweise High-End-Gitarrensoli zum Staunen und Fühlen.
Dazu kommt der überwältigend starke Gesang Michele Luppis, den Schwermetaller unter anderem von drei Vision Divine-Alben kennen. Der 35-jährige Italiener erfüllt die elf Stücke mit Power und Emotion. Unglaublich, mit welcher Leichtigkeit er alle Höhen erklimmt. Nicht nur bei der Ballade "Promises" (erinnert nicht als einziger Song an Bad English) wurde Luppi eine traumhaft schöne Melodie auf die Stimme geschneidert, bei der man meinen könnte, gleich wird die Decke touchiert. Dazu ein genau richtig dosierter, verträumter Klaviereinsatz und diese leidenschaftlichen, regelrecht mitsingenden Gitarren... Unweigerlich stelle ich mir dazu eines dieser 80er-Jahre-MTV-Videos vor, in denen ein leichtes Mädchen heulend vor Liebeskummer durch die verregneten Straßen von Los Angeles läuft... Mannomann ist diese Mucke stark; denn dass es nicht gleich kitschig wird, ist echt 'ne große Leistung...
...die man durchweg vollbringt! Auch bei "City Of Angels" umschifft man die Kitsch-Klippe auf wundersame Art und Weise. Ist das eine Ballade? Irgendwie schon... aber die Harmonien sind derart überzeugend gestrickt, der Gesang so vollmundig und präsent, dass dieses Stück das Niveau der theatralisch-noblen Schmachtfetzen eines Dennis DeYoung erreicht - und als Zugabe gibt es bei Los Angeles noch ein Plus an instrumentalen Details.
Es gibt auf "Neverland" - natürlich (?) - auch den ein oder anderen durchschnittlichen Song, denn der Melodic Rock wird hier ja nicht neu erfunden. Aber zu keiner Minute wird es langweilig; und das ist das Wichtige. Auch solch ein 'normaler' Song der Marke Survivor wie "Wait For You" geht mit seinem lebendigen Gitarren-Klavier-Getriebe unbeirrt nach vorn und nimmt dabei garantiert alles mit, was keine Ohropax in den Lauschern hat. Und als Zugabe gibt's noch ein spektakuläres Finale mit irre Outro-Solo und einem Michele Luppi, der um sein Leben singt.
Im weiteren Verlauf überzeugt "Neverland" noch mit einigen starken Nummern, die irgendwie rührig-(be)sinnlich beginnen, wie "Nowhere To Hide" oder "Higher Love". Aber weder die lustvoll exerzierenden Gitarren noch der Gesang als unermüdliche Kraftquelle positiver Energie wollen auch nur ein einziges der Stücke zu einer echten Ballade verkommen lassen. Nein, nein, es rockt ohne Ende; sei es mit einem simplen, aber betörenden Mitsing-Chorus in JLT-Manier wie bei "Tonight Tonight" oder im unbeschwert-verträumten 80er-Jahre Heavy Rock-Stil wie bei "Living Inside", wo nicht nur Machart und Melodie, sondern sogar der Gesang an Robin Beck erinnern. Darf ich daran erinnern, dass hier ein Mann singt? Stark, stark, stark.
Nicht unerwähnt bleiben sollten noch das gelungene Richard Marx-Cover "Nothing To Hide" und das Gänsehaut erregende "Welcome To My Life", ein glänzendes Beispiel dafür, wie man Stücke schreibt, die nicht durchplätschern und eine Songidee, gut oder schlecht, statisch runterspulen. Nein, hier gibt es eine Spannungskurve, die einen beim Hören mitreißt und auch hin und wieder durchschnaufen lässt - aber an den richtigen Stellen das Blut in Wallung bringt.
Fazit: Das Team aus Michele Luppi und Produzent und Bassist Fabrizio Grossi hat mit seinem Team aus geladenen Musikern (inklusive Melodic Rock-Maniac Tommy Denander) mit seinem zweiten Los Angeles-Album Großes vollbracht. "Neverland" lässt mit Sicherheit keinen Melodic Rocker kalt. Dieses Projekt mausert sich zu einer echten Hausnummer im AOR-Universum.
Line-up:
Michele Luppi (vocals)
Fabrizio Grossi (bass)
Guest Musicians:
Tommy Denander (guitar)
Joey Sykes (guitar)
Roberto Priori (guitar)
Eric Ragno (keyboard)
Tony "AJ" Morra (drums)
Tracklist |
01:Neverland
02:Nothing To Hide
03:City Of Angels
04:Promises
05:Wait For You
06:Nowhere To Hide
07:Tonight Tonight
08:Higher Love
09:Living Inside
10:Welcome To My Life
11:Paradise
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